Interview | interview

Interview zum »LOVERFILM«
von Tim Lienhard, TV-Sendung vom 16.02.97


Tim Lienhard:
...Um was geht's im »Loverfilm«?

MB:
Um was geht's im »Loverfilm«? Ja, um was geht's; es geht natürlich um meine Lover, um meine persönliche private Geschichte, die sich über die letzten 15 Jahre erstreckt in Bezug auf mein Sexualleben. So gesehen ist der »Loverfilm« ein ganz privates Album, ein Fotoalbum, Filmalbum. Aber eigentlich geht's nicht um diese vordergründige Wirklichkeit. Es geht vielmehr um die Wahrheit hinter den Bildern. Wir leben ja gerade an der Schwelle zum sogenannten Informationszeitalter, Stichwort: Datenverarbeitung, und im »Loverfilm« hab' ich meine persönliche Geschichte sozusagen in Daten umgesetzt und daraus einen sehr strukturellen, seriellen, sachlichen Film gemacht, - der das eine zum anderen kommen läßt.

Tim Lienhard:
Deine persönliche Geschichte wird ja sowieso gerne in Deinen Filmen thematisiert. Du thematisierst Dich selbst; Deine Person.

MB:
Klar. Ich versteh' ja mein Filmemachen sowieso eher als Teil der bildenden Kunst. Also im Gegensatz zum großen Kino, wo mit Illusionen gearbeitet wird, geht's mir in meinen Filmen um diese künstlerische Authentizität, und damit geht's natürlich immer um den Filmemacher selbst, um den Künstler hinter der Kamera.

Tim Lienhard:
Das heißt, Du möchtest, daß der Zuschauer, der Betrachter Deines Films etwas zu Deiner Person, zur Person des Machers erfährt?

MB:
Ja und Nein, -wiegesagt- es geht mir gar nicht um diese konkrete Wirklichkeit, um die konkreten Daten, wer-mit-wem oder mit wem ich im Bett war. Ich mache da zwar kein Geheimnis raus, und erfreulicherweise die meisten meiner Ex-Lover auch nicht. Aber eigentlich geht's mir -wiegesagt- um die Wahrheit hinter den Bildern, ja, und diese Wahrheit ist ja nicht unmittelbar gleichbedeutend mit meiner privaten Wirklichkeit. Die Zuschauer können mich als Person gleich überspringen, und einfach bei sich selbst schon anfangen. Also mich nur als Beispiel oder zum Anlaß nehmen, und sich selbst fragen, 'wie sieht's denn bei mir aus'?

Tim Lienhard:
Aber das ist eigentlich ein Widerspruch. Du sagst dem Zuschauer ja auch: hör zu, hier geht's um mich, schaut her - bist Du denn so interessant?

MB:
Also ich bin, wenn ich mich selbst thematisiere, nicht der Star und ich will auch nicht als Star gesehen werden. Ich spreche ja auch kein anonymes Massenpublikum an wie das Illusionskino, sondern jeden einzelnen Zuschauer höchstpersönlich, das versuche ich zumindest. Der »Loverfilm« spielt ja auch mit dem Voyeurismus der Zuschauer. Er wird direkt angesprochen und auch aufgefordert, 'Sie können jetzt nach hause gehen, wenn sie den Film nicht sehen wollen. Ich zwinge Sie zu nichts'. Es ist die Neugierde des Zuschauers, die ich anspreche, und der Zuschauer ist dann auf jeden Fall bei sich selbst. Und -wiegesagt- für andere interessant zu sein, ist gar nicht mein Ziel, sondern mir geht's um Inhalte, wirklich um Inhalte, die sind interessant. Also bezogen auf den »Loverfilm« kann das einerseits Promiskuität sein und wie man damit umgeht, aber auf der anderen Seite eben auch das Recht am eigenen Bilde in dieser unserer Informationsgesellschaft oder eben elektronische Datenverarbeitung.

Tim Lienhard:
Das klingt so nüchtern. Du machst einen sehr erotischen Film, mit hübschen Jungs und Pornoszenen, und dann sprichst du von Datenverarbeitung.

MB:
Jaja, dieser Kontrast ist ja gerade das Spannende. Wie läßt sich Realität fassen. Mit Statistiken, Listen? Und wo bleiben da die Gefühle? Das ist wirklich sehr komplex. Da geht's mir z. B. auch um das Erinnern, das persönliche Gedenken, um die Vergangenheit als Teil der Gegenwart, um den Erinnerungswert von Bildern. Wie übrigens auch schon im »Aide Mémoire - ein schwules Gedächtnisprotokoll«. Aber im »Loverfilm« geht's nicht nur um das Erinnern an Verstorbene sondern eben auch um das Erinnern an Lebende.

Tim Lienhard:
Also da ist dann die Aufforderung: erinnert Euch?

MB:
Ja, denkt an Euch selbst, reflektiert über Euch selbst.

Tim Lienhard:
Und erinnern, um nicht zu verlieren?

MB:
Erinnern, um nicht zu verlieren. So kann man das sagen. Oder besser noch: erinnern, um zu gewinnen. Um sich die Vergangenheit anzueignen. Wer nimmt sich denn heutzutage überhaupt noch die Zeit, über Vergangenheit und damit über sich selbst nachzudenken. Das wird einem ja gerade auch von den Medien vorgemacht, da wird alles aktualisiert, nicht nur in den Nachrichten. Achtung: jetzt kommt der Kick - machen Sie es sich schon mal bequem. Und gerne wird dabei suggeriert, das alles wäre: Live! Reality! Aber letztlich wird da nur ein großer Brei aus Allem gemacht: die Inhalte werden anonymisiert und entpersonifiziert; die Realität wird in kleine verdauliche Häppchen atomisiert und damit vollkommen neutralisiert. Der »Loverfilm« ist da vielleicht eine Persiflage auf diese Art Informationsverarbeitung, eine Karikatur dieser Bilderflut. Die Bilder meiner Lover im 3-Sekunden-Takt. Aber -wiegesagt- es geht ja gar nicht um die Liste meiner Lover. Ich hab' ja letztlich nicht die Liste meiner Lover bebildert, sondern meine Gefühle und meine Gedanken.

Tim Lienhard:
Kennst Du Scham?

MB:
Scham? Ja, also ich bin verschämt. Das auf jeden Fall, ich bin verschämt, ja. Truffaut hat mal gesagt: 'Melodram ist Kino, das sich seiner selbst nicht schämt'. Also das Melodram, oder sagen wir mal: das Hollywood-Klischeekino will Emotionen wecken beim Zuschauer, daß die in Tränen ausbrechen, oder sich bepissen vor Lachen, ja. Wunderbar - das will ich aber nicht. Also insofern bin ich nicht un-verschämt wie das Illusionskino, sondern wirklich verschämt, also im Sinne: ich zweifel an dem Medium, ich beschränke mich ganz bewußt auf einfachste Mittel. Und desillusioniere eher als daß ich die Macht der Bilder einseitig ausnutze, um z.B. Kasse zu machen. Und diesen Zweifel am Medium vermittele ich auch dem Zuschauer. Der merkt genau, das meine Filme keine Melodramen sind, die da über die Leinwand huschen, die ihn jetzt irgendwie rühren sollen, in sentimentale Stimmungen, in Erregungszustände versetzen sollen. Die sollen zum Nachdenken anregen. Solche Filme mach' ich.

Tim Lienhard:
Und Scham kennst Du demnach.

MB:
Ja, diese persönlichen, authentischen, künstlerischen Filme sind sehr verschämt, ja.

Tim Lienhard:
Ich könnte mir aber genauso vorstellen, daß viele sagen würden, das sind unverschämte Filme, schamlose Filme.

MB:
Ich will mit diesen Filmen gar nicht provozieren. Sondern ich will -eindeutig- nur Realität, die selbstverständlich ist, die für mich selbstverständlich ist, wiedergeben.

Tim Lienhard:
Die Tatsache, daß Du Lover zeigst, als Mann Lover zeigst, das thematisiert ja automatisch auch Schwulsein. Darin kann ja auch eine Provokation liegen.

MB:
'Provokation' - was ist das? Wer sich wie-wann-wo provoziert fühlt, hängt ja sehr vom subjektiven Empfinden desjenigen ab, nicht wahr. Und mag sein, daß der eine oder andere sich da provoziert fühlt, also meine Absicht ist es aber nicht.

Tim Lienhard:
Ist es Dir denn wichtig, Schwulsein zu thematisieren, jetzt nicht nur im »Loverfilm« sondern überhaupt in Deinen Arbeiten?

MB:
Schwulsein zu thematisieren ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Das ist so, weil's der Realität entspricht. Das handel ich aber eher beiläufig ab. Ich mache keine plakativen Manifeste in Richtung von Homosexualität oder so. Also das ist nicht meine Ansinnen.

Tim Lienhard:
Also Schwulsein ist gar kein Thema, so gesehen?

MB:
Also das ist Thema, weil's meiner Realität entspricht, aber nicht das Hauptthema. Und überhaupt: was ist denn eigentlich ein Schwulenfilm. Wenn da nur eine konventionelle Geschichte erzählt wird, wo zwei sich treffen, sich verlieben und dann womöglich heiraten -das wünschen sich vielleicht viele Schwule als Schwulenfilm-, oder wo einer Krebs resp. Aids hat und das schön verpackt in einer Lovestory, - ist das ein Schwulenfilm?! Wenn ich einen Schwulenfilm drehen würde, dann würde ich einen Naturfilm drehen, denn das: die Natur ist die Basis von Homosexualität.

Tim Lienhard:
Gibt's Tabus für Dich?

MB:
Natürlich. Jeder hat so seine Tabus. Aber Tabus zeichnen sich ja vor allem dadurch aus, daß man eben nicht darüber redet. Und darum muß es dabei bleiben.

Tim Lienhard:
Mir würde so schnell kein Tabu einfallen bei dir. - Ich hab' das Gefühl, du gehst an jedes Thema locker ran.

MB:
Ich versuche, an jedes Thema locker ranzugehen. Aber wenn ich in mir etwas entdecke, worüber ich ungern rede und so, dann versuch ich eine Form zu finden, mich dieser Grenze zu nähern. Zunächst ist ein Tabu ja ein Schweigegebot: 'darüber redet man nicht!', dies oder das ist nicht diskursfähig. Und dann definieren Tabus ja immer eine Grenze. Und insofern ist die Auseinandersetzung mit Tabuthemen immer ein Prozess, eine Grenznäherung. Es kommt darauf an, 'wie' man sich dieser Grenze nähert. Also heutzutage ist es gar nicht mehr erheblich, 'daß' man über Tabus redet -in jeder Talkshow wird über alles geredet-, sondern entscheidend ist, 'wie' man über Tabus redet und was dabei rüberkommt. Also: wie macht man diese Tabus bewußt, wie rückt man diese Grenzen ins Auge? Wie befähigt man die Leute, sozusagen über ihren Horizont hinauszublicken? Gezielte Provokationen sind ja inzwischen zu einem reinen Medienereignis verkommen, und scheiden aus. Und die X-Beliebigkeiten im Werberahmenprogramm bringen auch nichts. Es geht ja schließlich um die Intensität in der Auseinandersetzung mit Tabuthemen. Also insofern stelle ich Tabus gar nicht in den Vordergrund, sondern versuche ganz unspektakulär, ohne Sensationslust, Schock und Effekthascherei, eher beiläufig und wie selbstverständlich, die Tabuthemen in meine Filme einfließen zu lassen. Dann fühlt sich der Zuschauer eher unbequem als provoziert, und ist eher überrascht als angewidert, aber er ist dann immerhin schon bis an seine Grenze mitgekommen, und hat nicht vorher schon kehrtgemacht. Und darum geht's ja, daß der Zuschauer mitkommt bei der Grenzerkundung, daß er eine Realität jenseits seines Horizontes feststellt. Eine Realität, die er zwar aus seiner Realität ausblenden will, aber -aha!- die Realität ist da. Und wenn diese Realität erkannt ist, und wie selbstverständlich daherkommt, dann ist ja eigentlich auch schon die Grenze überschritten und vielleicht auch ein Verständnis geweckt.

(Tim Lienhard, Interview zum »LOVERFILM« am 07.02.97,
Ausschnitte in: WDR 3 'KULTURSCENE', TV-Sendung vom 16.02.97)

.

monografischer Artikel | monographic review
Cristina Nord, "Einblicke ohne Offenbarung", die tageszeitung, Berlin, 31.10.98
monografischer Artikel | monographic review
Ulrich Wegenast, "Data Base Of Carnal Lust" (»LOVERFILM«), Fleshpot -Cinema's Sexual Myth Makers & Taboo Breakers-, Manchester, Fall 2000

monografischer Artikel | monographic review
Robin Curtis, "Situating the Self" (excerpt on MB), Dissertation, 2003




Linkliste 'INTERVIEWS' | link list 'interviews'
bio/monografische Einzel-Interviews | bio/monographic single interviews