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Pressestimmen | reviews and articles

"Kunst ohne Körper - Die mediale Avantgarde"
von Claudia Friedrich


Anmoderation
Ein Festival der Zukunft öffnet am Donnerstag seine Pforten: Die Ars Electronica. Es geht um Cyberkunst, um Netztechniken und digitale Visionen. Seit 1979 bietet das Festival eine einzigartige Plattform für digitale Kunst und Medienkultur. Bis zum 5. September gibt es Ausstellungen, Performances, Gespräche, ein Symposium und einen Wettbewerb für Cyber Art. Der Medienphilosoph Peter Weibel war bis 1995 künstlerischer Berater der multimedialen Veranstaltung, bevor er zum Vorstand des renommierten Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe gewählt wurde. Für den Theoretiker und Medienkünstler hat die klassische Kunst ausgedient. Der Experimentalfilmer Michael Brynntrup wiederum zelebriert Kunst im Netz als sinnliches Vergnügen des Universums. Claudia Friedrich besuchte den Philosophen im Museum in Karlsruhe und den Künstler in seiner Dachwohnung in Berlin und betrachtete dessen Werk im Internet.

Beitrag

Michael Brynntrup: Die Statik der Eselsbrücken (1990)
Sehr genervtes Publikum ähh...

Text
Es kann schon mal den einen oder anderen Nerv treffen, wenn Michael Brynntrup sein Selbst spiegelt. Mit bewegten Bildern in schwarz weiß. Mit expressionistischen Kulissen und einem Darsteller: Michael Brynntrup selbst.

Michael Brynntrup: Die Statik der Eselsbrücken (1990)
Jede Ähnlichkeit mit einer lebenden oder toten Person ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Selbst ich sehe eigentlich ganz anders aus.

Text
Unter brynntrup dot de offenbart der Künstler, wie er wirklich aussieht: Immer wieder anders. Auf seiner Website schafft er Abbilder seiner Person: als Baby, Kind, Erwachsener. Als Schreiber, Denker, Forscher und Narziss. Dabei dreht es immer um eines: Identität.

Michael Brynntrup
Das ist sozusagen ideal, das mit dem Medium Internet zu realisieren. Man kann neue Schichten hinzufügen und man ist zu der Vergangenheit nur durch einen Klick entfernt, man kann sozusagen Vergangenes mit Gegenwärtigem abgleichen. Und ja durch diese nonlinearen Navigationsmöglichkeiten innerhalb eines ‚Oeuvres’ hat man dann wirklich diese erhöhte Transparenz von dem, was der Gegenstand ist: also Identität.

Text
Für diesen Gegenstand schuf Michael Brynntrup einen eigenen Kosmos. Witzig, ironisch, selbstverliebt. Der Klick auf verschiedene Buttons und Bilder bringt den Besucher in das virtuelle Labyrinth des Experimentalfilmers und Netzkünstlers aus Berlin.

Michael Brynntrup: Stummfilm (2002)
Wie denn Wo denn Was denn. Ein Stummfilm.

Text
Wer auf seine Internetseite geht, liest am unteren Bildschirmrand einen Satz, der als Endlosschleife wie ein helles Banner über den schwarzen Grund der Seite gezogen wird.

Michael Brynntrup
Hier endet das Internet.

Text
Ein amüsantes Paradoxon. Denn wäre der Besucher nicht im Netz, würde er diesen Satz gar nicht zu Gesicht bekommen. Doch damit will Michael Brynntrup sein virtuelles Kunstprodukt markieren: als einen endlichen Körper im unendlichen Raum.

Michael Brynntrup
Ein Zuschauer, der die Seite betritt, der ist erst einmal gewarnt. Der ist aber in dem Sinne auch geeicht, das, was hier kommt, ist etwas, was in sich abgeschlossen ist.

Text
Eine Sammlung von Sprüchen, Aphorismen, Lebensdaten, Liebhabern. Von Drehbüchern und einem Film, der den Titel trägt: „Kein Film“.

Musik: Kein Film

Michael Brynntrup
Weil er wirklich relativ wenig Bezug hat zur Realität, weil er ganz aus dem Computer gerechnet ist. Dann sieht man weiße Punkte auf schwarzem Grund, und denkt sich dann eine Figur, die geht. Völlig abstrakt. Und dann kommt auch schon der Titel „Ende“. Ein Spiel mit Erwartungshaltungen, mit Gedanken, die sich der Zuschauer während des Betrachtens macht.

Text
Auf seiner Internetseite entwirft Michael Brynntrup das Selbstbildnis eines klassischen Künstlers in den Neuen Medien.

Michael Brynntrup
Ich definiere doch Künstler immer noch als Individuum mit Extremen, der irgendwie etwas Unübliches sozusagen zum Besten gibt.

Text
Für den Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe Peter Weibel hat das Internet den Kunstbegriff in eine Krise gestürzt.

Peter Weibel
Eine Gesellschaft, die dem Individuum so viel Macht gegeben hat zu sagen: Ich als Einzelner behaupte: Ich bin Künstler und das, was ich mache, ist Kunst, diese Gesellschaft ist heute nicht mehr haltbar.

Text
Klassische Kategorien wie Signatur, Handschrift und Original, die einen geschaffenen Gegenstand als Kunstwerk definieren, haben an Gültigkeit verloren. Auch die Kunstkritik muss neue Maßstäbe setzen, um den Datenraum als Kunst oder Kitsch zu werten.

Peter Weibel
Die digitale technische Kunst ist auf mehrfache Weise die Vollendung anderer Kunstformen. Wenn man die Sache nüchtern betrachtet: was haben Maler gemacht, abgesehen davon von der technischen Fertigkeit, die ich uneingeschränkt bewundere... Aber sie haben in der Hauptsache in den Kirchen und Palästen die herrschende Klasse reproduziert. Wir wissen, die Entstehung des Bildes geht zurück auf eine Art Todeskult. Also der Kult des Bildes ist entstanden als Kult des Lebens gegen den Tod, um zumindest als Bild unsterblich zu werden. Die Malerei, in moderner Sprache das Speichermedium, was als Illusion die Unsterblichkeit der Abgebildeten verbürgt.

Musikwelle-Otros Aires

Peter Weibel
Jetzt ist das heute so, Gott sei Dank, dass wir einen derart großen Speicherraum haben, durch die elektronischen digitalen Medien. hat jeder die Möglichkeit, sich abzubilden. Es ist das Tolle, dass die Mehrheit der Menschheit das Spiel satt hat. Ich mache ein Foto und möchte nicht mehr zu einem Kritiker gehen und den zwingen, was Gutes zu sagen. Zu sagen: Du bist Künstler. Also den ganzen Instanzen von Museen über Galerien über Kritiker, Zeitungen, Radio, Fernsehen und Sammler, diese Instanzen, die bisher die Macht hatten, ein Kunstwerk zu bestätigen, haben ausgespielt. Wenn ich im Netz bin, dann brauche ich die nicht mehr.

Text
Für Künstler wie Michael Brynntrup gewährt erst das Internet Unabhängigkeit vom so genannten Kunstbetrieb wie Museen, Galerien, Festivals. Auf der von ihm geschaffenen Plattform stellt er sein Selbst aus. Hinter dem Titel „Tabu“ verbirgt sich das Herzstück der Netzkomposition, ein Tagebuch.

Tagebuch-Michael Brynntrup: Sprecher
Tabu 03, 11. Januar 1986 - Wenn ich 1000 Seiten Tagebuch geschrieben habe, mache ich eine große Fête. Die 1000 Seiten werden ich kopieren und damit die Fêtenwänden tapezieren und die Gäste können sich die Mühe machen alles zu lesen, das Innerste nach Außen gekehrt. Titel der Fête: Tabu.

Text
Inzwischen sind es über 3144 Seiten. Wer sie lesen will, muss bezahlen. Ein Tabubruch mit Folgen. Für den Preis von 160 Euro gibt es eine echte Papierseite aus dem Leben des Künstlers, gerahmt und signiert. Sie wird dem Käufer zugeschickt. Außerdem bekommt er ein Passwort, einen Schlüssel sozusagen, mit dem der Besitzer jenes intimen Dokuments Zugang zu allen anderen Tagebuchseiten erhält, die real verkauft und irreal im Netz zum Lesen bereit liegen.

Michael Brynntrup: Die Statik der Eselsbrücken (1990)
Ich heiße Michael Brynntrup und bin am siebenten zwoten neunzehnhundert neunundfünfzig geboren- worden. Tod des eineiigen Zwillingsbruders bei der Geburt.

Text
Tod: ein Lieblingsthema des Künstlers. Denn Tod und Geburt beschreiben das Leben als eine Zeitlinie, die den Künstler immer wieder inspiriert.

Michael Brynntrup
Das heisst also: Zeit ist das total bestimmende Moment, und darum habe ich mich wirklich für Film entschieden, weil Film ist letztlich die Gestaltung von Zeit.

Text
Indirekt ist der Tod auch das Thema seines neuesten Netzprojektes, eines im Werden begriffenen Mitmachfilms. Ein Spiel, das in die Knochen geht. Knochen können gewonnen und verloren werden.

Michael Brynntrup
Der Zuschauer kann seine eigene Bestattung ausrichten während des Spiels und kann am Ende seiner eigenen Bestattung beiwohnen.

Text
Brynntrup dot de: Kunstwerk im World Wide Web. Selbstschau und Memento Mori. Spiegelsaal eines homosexuellen Experimentalfilmers, eines Grenzgängers mit Sendungsbewusstsein.

Michael Brynntrup
Was mir wichtig ist, ist eine gewisse Leichtigkeit des Erlebens bei aller Schwere der Themen: Tod und Leben und Zeit.

Musik- Otros Aires

Abmoderation

(Claudia Friedrich, "Kunst ohne Körper - Die mediale Avantgarde", WDR 5 'Scalas Sommer Service', Radio-Sendung vom 28.08.06)


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