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Pressestimmen | reviews and articles

Der Künstler schweigt und schreibt
von Helmut Merschmann

Die seltsamen multimedialen Einfälle
des Experimentalfilmers Michael Brynntrup



"Hier endet das Internet", verkünden drei Links auf der Website von Michael Brynntrup. Zwei davon führen in die Irre, an Orte, die man besser nicht aufsuchen sollte, wenn einem der eigene Computer lieb und teuer ist. Der dritte führt zurück zur Startseite (www.brynntrup.de), zum Anfang eines hermetischen Labyrinths. Man könnte es auch einen hermeneutischen Zirkel nennen, denn die zirca 500 Seiten umfassende Homepage des Berliner Künstlers und Experimentalfilmers Michael Brynntrup dreht sich vor allem um eines: um Michael Brynntrup selbst.

Was ist denn eigentlich ein Künstler? Zunächst offenbar jemand mit einer eigenen unverwechselbaren Hand- und Unterschrift, die, wie in diesem Fall, gleich auf der Startseite leuchtet und einer Fieberkurve gleicht. Sie will womöglich das Auf und Ab des Lebens wie auch der künstlerischen Produktivität anzeigen. Soll nur einer noch behaupten, Kunst könne nicht exakt beziffert werden. Das Gegenteil ist der Fall: egal, ob es sich um gefüllte Tagebuchseiten, abgedrehte Filme, gemalte Bilder oder Aktionen handelt - jede Sparte erhält bei Michael Brynntrup einen Quotienten, aus dem sich das genaue Mittel des Kunstausstoßes für jedes Lebensjahr errechnen und als farbiges Balkendiagramm darstellen läßt. Allerdings: "Man muss nicht berühmt sein, um eine Privatsphäre zu haben."

Penibel hat Michael Brynntrup seit 1977, dem Jahr seines "künstlerischen Coming-outs", alles gehortet, was ihm aufhebenswert erschien: "sinnige Sentenzen" aus den Tagebüchern, Skizzen, Bilder und Grafiken, experimentelle Kurzfilme und natürlich die vielen Pressestimmen zu seinen Filmen, und zwar jede einzelne. Er ist ein Jäger und ein Sammler, der seine Trophäen nicht verbirgt. Brynntrup zählt zu den wenigen deutschen Experimentalfilmemachern, die von dieser sonst eher brotlosen Kunst leben können und hoch in der Gunst von Fördergremien und Filmfestivals stehen, deren gern gesehene Dauergäste sie sind. Anlässlich einer im November stattfindenden Filmtour durch die USA, inklusive einer Show im renommierten New Yorker Museum of Modern Art, stellte er unlängst seine selbstgestaltete und selbstgehackte Homepage fertig, an der er - Learning-by-doing - 15 Monate saß.

Experimentalfilm verpflichtet, in doppelter Hinsicht. Wie in vielen seiner Filme geht es Brynntrup auch auf der Website um die Frage, ob "es möglich ist, eine Person umfassend darzustellen". Schon in seinem Kurzfilm »Die Statik der Eselsbrücken« betreibt er mit geradezu naturwissenschaftlichem Temperament das Projekt seiner Selbstbespiegelung; im »Loverfilm« zählt er jeden einzelnen seiner Liebhaber auf. Oder hat er da ein wenig geschummelt? Wie im Fall der angeblichen "Live"-Webcam, die den Künstler zeigt, wie er am Arbeitstisch sitzt und in sein Tagebuch schreibt und schreibt und schreibt - derweil die eingeblendete Echtzeit vergeht. Der "große Wurf" ist sein Anspruch, der "Aberwitz" sein Ziel.

Natürlich ist ihm bewußt, dass eine Person nicht vollständig beschrieben werden kann, noch nicht einmal die eigene. Zwischen Leben und Aufzeichnung besteht eben eine kleine Differenz, die Zeit, die übrig bleibt, darüber nachzudenken, wie vermessen es ist, die eigene Existenz zu vermessen. Oder so ähnlich. In der ganzen Archivierung und Katalogisierung seines mittlerweile 40-jährigen Lebens entdeckt Michael Brynntrup indessen eine interessante Parallele zu zwei Grundpfeilern des Internets, über die er sich per Homepage umgehend lustig macht: die Information, die er gleich in überbordender Fülle liefert, und die Kommunikation, der er sich im Grunde verweigert (sieht man davon ab, dass seine Filme und Tagebuchseiten hier bestellt werden können).

Solchen selbstreflexiven Umgang mit den Bedingungen seines Mediums beherrscht Brynntrup aus dem Effeff. Und er sieht es als vornehme Künstlerpflicht an, sich neuen Medien zu widmen, ihre Potentiale auszuloten. Als Filmemacher interessieren ihn Bewegung und Animation, gerade weil sie sich im Internet so schwer herstellen lassen. An vielen Stellen der komplexen Homepage blenden Bilder ineinander über, oder ein Film spult sich ab - wenn man nur selbst die Scrolleiste bedient. Auf allzu avancierte Techniken verzichtet Brynntrup jedoch; er will "den User nicht beeindrucken", sondern lieber anregen, "darüber nachzudenken, dass man vor einem Monitor sitzt und Daten bekommt."

Dennoch ist die gesamte Website ein ziemlicher Anachronismus; sie stammt aus einer analogen Welt, wo noch per Hand gezeichnet und geschrieben wird, ein Künstler höchstpersönlich liebt und leidet. Apropos: Seinem Leitmotiv, dem Memento mori (gleichsam Titel eines Brynntrup-Films), ist er auch hier, in der digitalen, das heißt ewigen Welt treu geblieben - die Vignette zeigt einen Bildhauer, der an einem Skelett meisselt. War in jedem seiner Filme "ein Friedhof dabei", so darf das Todesmotiv auch im Internet nicht fehlen. Im Grunde hat jede Statistik, jeder Biorhythmus und jedes Diagramm etwas bedrohlich Letztgültiges. "Wir sind ja nur Biomasse", erklärt der Künstler daraufhin mit gegen die Zimmerdecke (Kosmos!) gerichtetem Blick. Sein erstes gemaltes Bild trug den Titel "Kein Leben ohne Tod", er besuchte Seminare über Thanatologie an der Freiburger Universität. Sogar einen Werbeclip für das Berliner Bestattungsunternehmen Grieneisen darf er zu seinem Oeuvre zählen.

»Plötzlich und unerwartet - Eine Déja-Revue« heißt ein Film, den Michael Brynntrup 1993 mit seinem bislang berühmtesten Darsteller, Udo Kier, auf einem Berliner Friedhof drehte. Daraus soll jetzt ein CD-ROM-Projekt werden, ein interaktiver Film, in den der Zuschauer an den ihm bekannt vorkommenden Déja-vu-Stellen eingreifen kann, um eine andere Richtung einzuschlagen. Dem Friedhof wird er nicht entrinnen, so wenig, wie er die Homepage von Michael Brynntrup verlassen kann. Schon werden neue Statistiken angefertigt über die Besucherzahl der Website. 1820 Gesamtzugriffe waren im ersten Monat zu verzeichnen, zu über fünfzig Prozent Zugriffe auf die Live-Cam. Der Künstler schweigt und schreibt.

(Helmut Merschmann, "Der Künstler schweigt und schreibt", Frankfurter Rundschau, Frankfurt, 02.10.99)


[ dokument info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 01.10.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 02.10.1999
http://www.frankfurter-rundschau.de/fr/200/t200002.htm

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