Michael Brynntrup's
sinnige Sentenzen | sententious senses

Tagebuchzitate | quotations from the diary

Interview deutsch | interview german

Interview englisch | interview english



x sinnige Sentenzen | sententious senses

Meinen Ausdruck finde ich nicht in einem Ausbruch der Verzweiflung, letzten Endes im Freitod, sondern im Leben als Troglodyt meiner Eingeweide. Die Melancholie ist die Kinästhesie meiner Gedanken.
{aus: »Vorstudie zum Schlußpkt.«, Sommer 1981}

Übrigens habe ich mir gerade in der Nase gebohrt, - in meiner Nase. Und zwar mit dem linken Zeigefinger zuerst im rechten Nasenloch, dann mit dem gleichen im linken Nasenloch, von mir aus gesehen. Nun, von mir aus habe ich das natürlich nicht gesehen. Von mir aus schon, meinetwegen, egal. Aber wenn ich meinen Finger in meiner eigenen Nase mit meinen eigenen Augen sehen wollte, ja was dann? Dann müßte ich schielen, was mich zu sehr anstrengt, oder ich müßte einen Spiegel holen, was wohl zuviel Aufwand wäre, dafür, daß ich meinen Finger in meiner Nase sähe. Außerdem sähe ich ihn ja sowieso nicht, weil ich mir ja nicht in die Nase sehen kann, nicht wenn ich schiele und auch nicht mit einem Spiegel, zumal ja ein Finger in der Nase steckt. Ich müßte schon Augen an der inneren Nasenöffnung haben, also von innen her sehen können, wie der Finger dann von vorne auf mich oder besser: meine Augen zukommt. Nun habe ich aber keine Augen tief im Nasenloch oder besser: in der Nasenhöhle, so daß ich eben nicht von innen her sehen kann. Das ist Schicksal.
Doch auch wenn ich ein Auge oder zwei Augen oder meine zwei Augen in der Nasenhöhle sitzen hätte, ich könnte meinen Finger in meiner Nase nicht sehen, weil ja, sobald der Finger durch die Nasenöffnung, das sogenannte Nasenloch dringt, er, der Finger, die Nasenhöhle gänzlich verfinstert, so daß eine Beobachtung des Fingers in der Nase nicht mehr möglich erscheint, wie überhaupt also ich einen Finger in einer Nase, den Finger in der Nase oder meinen Finger in meiner Nase nicht sehen kann. Pech.
{aus: »Vorstudie zum Schlußpkt.«, Sommer 1981}

By the way, I have just been picking the nose, my nose. That is, first with my left index finger into my right nostril, then with the same finger into my left nostril, as seen from my point of view. Well, I did not actually see it from my point of view. As far as I'm concerned, if you like, never mind. But what if I wanted to see my finger up my nose with my own eyes, then what? Then I would have to squint, which I find exhausting or I would have to fetch a mirror which would be too much of a hassle, considering that I would only see my finger up my nose. Besides, I would not really see it anyway, because I cannot look inside my nose not even if I squinted or used a mirror, especially not since a finger is stuck in my nose. I would have to have eyes at the inner opening of my nose to be able to see from the inside, how my finger then moves towards me, or rather to my eyes, from the front. However, I don't have my eyes deep down my nostrils or rather in my nasal cavity, so that I am after all not in a position to see from the inside. That's fate.
But even if I did have an eye or two eyes or my two eyes in the nasal cavity I would not be able to see my finger in my nose, and that is so, because the minute the finger penetrates the opening of the nose, the so-called 'nostril', it, the finger obscures the nasal cavity completely, which seems to render impossible the observation of the finger in the nose, in the same way as consequently, I shall never be able to see a finger in a nose, the finger in the nose or my finger in my nose. Too bad.
{from: »Vorstudie zum Schlußpkt.«, Sommer 1981}

"Wenn ein Schatten eine zweidimensionale Projektion einer dreidimensionalen Form ist, dann muß ein dreidimensionales Objekt die Projektion einer vierdimensionalen Form sein. So enthält das einfachste Objekt die Möglichkeit einer Offenbarung."
(Marcel Duchamp, zitiert in: Rubin 'Dada, Surrealismus', NY 1968, S.17ff)

Alte, herumfliegende Gedanken: Um ihre höheren Ideen/Theorien zu veranschaulichen, mußten Platon und Einstein jeweils eine Dimensionsstufe zurückgehen: der zweidimensionale 'Schatten' / der dreidimensionale 'gekrümmte Raum'.
{TB0762.Tabu03, 10.08.86}


x Tagebuchzitate | quotations from the diary

Eben eine kleine Aufnahme 'Puppentanz' zu Jahrmarktsorgelmusik gemacht, um eine Cassette vollzubekommen, - vielleicht für den »Höllensimulationsfilm«.
{TB0655f.Tabu03, 16.01.85}

»Höllensimulation«, der jetzt bis auf die Vertonung fertig geworden ist, [...] ist ein Zeichen-Trickfilm, eine Spielerei mit Konnotationen von Realitätsfragmenten, -rudimenten, -segmenten, -fermenten. Flächige Schwarz/Weiss-Bilder (platte Schwarz-Weiss-Malerei). Realaufnahmen nur zweimal: Mensch und Haus, genauer: Kodak-Testbild mit lächelnder Frau, und die bekannte Aufnahme des explodierenden Hauses, dokumentiert bei einem Atomtest. Eine philosophische Betrachtung zum A und O, auch: zum A im O = {das A im O - Anarcho-symbol}.
{TB0971.Tabu04, 08.08.87}

Ich komme doch immer wieder / ewig wiederkehrEND auf das Denken im Kreis und im Quadrat zurück: Denken hoch zwei (Denken2) und das kreisendENDE Denken in quadratischen Schübladen.
{TB0973.Tabu04, 10.08.87}

Habe heute schon wieder den ganzen Tag über der »Höllensimulation« gebrütet, eine siebenminütige Endlosschleife, scheint'sein: Anfang und Ende sind thematisch, also komme ich immer wieder zu keinem Ende. Morgen zum hoffentlich allerletzten Male an den Schneidetisch.
{TB0975.Tabu04, 15.08.87}

Die Höllensimulation hat am Sonntag (d.h. vor vier Tagen) ihre Welturaufführung überlebt. An den richtigen Stellen ist gelacht worden, - das ist schon viel, wenn ich zunächst mit dem Produkt amüsieren will (was -wenn es gelingt- mir soviel wie eine Rechtfertigung für das Produkt überhaupt bedeutet), zumal ich ja an der Seriösität / an dem tieferen Sinn und der weiteren Bedeutung des Films nicht im geringsten zweifele.
{TB0987f.Tabu04, 29.09.87}

Zur »Höllensimulation«: Ein Filmemacher muß sich überlegen, ob er seinem Trieb zum Voyeurismus etwas abgewinnen will oder der Einsicht in die Unmöglichkeit, etwas überhaupt -der Realität adäquat- abzubilden. Höllensimulation ist die Visualisierung des blinden Flecks, die Thematisierung einer Allgemeinheit, die als scheinbare Selbstverständlichkeit nicht bedacht wird. Insofern auch ein situationistischer Film: im Kino, - jetzt, hier (auch eine Reduktion von expanded cinema -(ursprünglich eine Performance in einer Discothek)- jetzt eine 'Reflexion' im und über das Kino).
{TB1171.Tabu04, 19.04.88}


x Interview deutsch | interview german

SU:
Du hast eben schon kurz auf den Manierismus angespielt.
MB:
Den Manierismus halte ich für die interressanteste Kunstepoche überhaupt. Interressant daran ist für mich die Abkehr vom Formalismus, vom Akademismus, die Abkehr von Weltanschauungen, die der Natur und der Wahrnehmung Gesetze überstülpen wollen. Z.B. ganz bildlich: die Zentralperspektive, dieser Zentralismus, der wird plötzlich ad absurdum geführt. Interessant ist, daß der Manierismus sich eigentlich definiert über das, was er ablehnt, also zunächst mal negativ. Aber was am Manierismus positiv zu Ausdruck kommt, ist eben der Bllck auf die Vielseitigkeit eines Menschen oder auf die Komplexität der Welt, was bei der Zentralperspektive eben ausgeblendet ist, alles hat seinen Platz unter diesem Gitternetz. Beim Manierismus werden die Proportionen frei gewichtet, und da kommt viel stärker der freie Geist zum Ausdruck, die Phantasie.
(Interview mit Michael Brynntrup, von Steff Ulbrich, translated and printed in: BERLIN - Images in Progress, Contemporary Berlin Filmmaking, Edited by Jürgen Brüning and Andreas Wildfang, Hallwalls / Buffalo, 1989)


x Interview englisch | interview english

SU:
You just mentioned mannerism briefly.
MB:
I consider mannerism to be the most interesting epoch of art ever. Especially interesting is the rejection of formalism, the rejection of theories which tried to cover nature and vision by law. For example, the imagery: The central perspective, the centrality is suddenly led into absurdity. It is an interesting fact that mannerism has defined itself by what it rejected, which means it was first of all negative. But there is a positive expression in mannerism: its view of the diversity of man and of the world's complexity. This is something the central perspective had excluded, everything had its place in a pre-set structure. Mannerism weighs proportions freely and a free spirit can express itself in fantasy.
(Interview with Michael Brynntrup, by Steff Ulbrich, printed in: BERLIN - Images in Progress, Contemporary Berlin Filmmaking, Edited by Jürgen Brüning and Andreas Wildfang, Hallwalls / Buffalo, 1989)

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