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Interview zu »Aide Mémoire«
von Anke Gebert am 21.09.95


Anke Gebert:
Du hast einen Film über Deinen Freund Jürgen Baldiga gemacht. »Aide Memoire«, ist das Dein erster Film?

MB:
Nein, man könnte sagen, es ist mein erstes Video, aber ich habe vorher schon so 40 Kurzfilme gemacht.

Anke Gebert:
Und wie ist dieser Film entstanden?

MB:
Der Film ist eher beiläufig in meinem Lebensumfeld entstanden. Er hat also mit zufälligen Aufnahmen angefangen und hat sich dann im Laufe der Zeit entwickelt, sprich von 1991 bis 1995.

Anke Gebert:
Ich hatte den Eindruck, daß die erste Hälfte nicht inszeniert ist, und daß dann, als du als Leierkastenmann auftrittst, so eine Art von Inszenierung einsetzt.

MB:
Es ist ja ganz interessant, sich als Zuschauer die Frage zu stellen, was bei einem Dokumentarfilm inszeniert ist und was nicht. Beim ersten Interview, wir waren zum Kaffee trinken verabredet, hatte ich meine HI8-Kamera dabei, da haben wir so eine Art Vorgespräch geführt. Beim Interview zwei Jahre später sind wir dann schon mit zwei Kameras hingegangen, haben Licht aufgebaut, das war dann schon viel inszenierter, obwohl der Gesprächsablauf nicht festgelegt war. Das hat sich dann bei laufender Kamera thematisch entwickelt...

Anke Gebert:
Für viele Künstler ist ja ein Thema, nachdem sie es gemalt oder geschrieben haben, erledigt. Bei Dir ist das in diesem Fall anders. Du wolltest Deinem Freund mit diesem Film dazu verhelfen, daß er weiterlebt. Dein Freund war 8 Jahre aidsinfiziert und erzählt in dem Film, daß er selbst Freunde fotografiert hat, die aidskrank sind, und daß er sie damit am Leben erhalten wollte. Warum hast Du nicht mehr von seinen Fotos gezeigt?

MB:
Für mich geht es in dem Film mehr um die Person, um ihn als Mensch. Ich frage mich auch, ob ein Film das adäquate Medium ist, um Fotografie zu präsentieren. Ich bin außerdem davon ausgegangen, daß man Jürgens Arbeiten entweder kennt oder daß man genug über den Menschen in dem Film erfährt, so daß man die Bilder nicht unbedingt vorher kennen muß. Wenn der Film die Leute stimuliert, mehr über die Fotos erfahren zu wollen, dann finde ich es besser, sie kaufen sich die drei Fotobücher, die er gemacht hat, und sie nehmen sich die Zeit, die so ein Foto von ihm auch braucht. Ich habe zwar einige Fotos von ihm drin, aber da habe ich mich auf Selbstportraits beschränkt, um noch mal zu unterstreichen, daß es ein Portrait über ihn ist, daß es darum geht, wie er sich selbst sieht.

Anke Gebert:
Gestern mußtest du dir die Frage stellen lassen, ob der Film nicht zu persönlich ist, um ihn zeigen zu können. Was meinst du dazu?

MB:
Ich finde, ein Film kann gar nicht persönlich genug sein. Der Einwand müßte vielleicht auch noch konkreter gefaßt werden. Was ist den Leuten zu persönlich, zu privat? Da gibt es z.B. die Situation, wo ein Pariser gezeigt wird, und manche wollen nun gleich ganz genau wissen, was es damit auf sich hat, betreiben so einen Voyeurismus. Das ist die eine Schiene. Das habe ich dann auch sofort abgeblockt. So, wie sich Jürgen bewegt in dem Film, so ist er halt ganz intim, da entsteht eine ganz intime Interviewsituation. Da stört es nicht, daß die Kamera läuft, weil er sich nicht großartig verändert dadurch. Das ist ja oft das Problem bei Dokumentarfilmen, daß ein Medium dazwischentritt und eine Distanz schafft und daß die Leute anders agieren, als sie privat agieren würden. Insofern ist diese Privatheit ein Vorteil. Von den Themen her ist es ohnehin nicht ein privater Film.

Anke Gebert:
Was wird dein nächstes Projekt?

MB:
Da gibt es noch etwas Interessantes in Zusammenhang mit dem Film. Das ist nur eine Episode aus einem längeren Film, den ich plane, wobei die Episoden formal sehr unterschiedlich sind. Ich habe da keine Scheu, mit Formen auch zu experimentieren. Der Film heißt insgesamt 'Expositus, das Ende der GefühIe', das ist ein Arbeitstitel, davon sind bislang vier Episoden fertig. Kurz gesagt, geht es da um Ethik, ethische Fragestellung. Ich finde, so eine Wertedebatte ist momentan in Deutschland wichtig, gerade jetzt nach der Wende, so mal ganz im altertümlichen Sinne das Wort 'Werte' zu überdenken.

(Anke Gebert befragt Michael Brynntrup zu »Aide Mémoire«, 3. Dokfilmwerkstatt Poel, 21.09.95 - Abschrift und Bearbeitung der Tonbandaufzeichnungen: Monika Berus, gedruckt in: Poeler Gespräche, Landesfilmzentrum Mecklenburg-Vorpommern 1996)

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Gesprächsprotokoll | discussion
Moderation: Barbara Frankenstein, Diskussion zu »Aide Mémoire«, 3. Dokfilmwerkstatt Poel am 20.09.95, veröffentlicht in: "Poeler Gespräche", Landesfilmzentrum M/V 1996
Radio - Interview | radio - interview
Knut Elstermann, Interview Auszug zu »Aide Mémoire«,
ORB 'FILMJOURNAL', Radio-Sendung vom 10.02.96


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