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Pressestimmen | reviews and articles

Privat gibt's nich'!
von Konrad Lischka


Nicht weniger als 9504 Seiten umfaßt Thomas Manns verlegte Existenz. Auf diesen Tagebuchseiten hat Mann sich als Künstler erfunden, der in seiner Kunst den Bürger beschrieb. Heute braucht es dafür nur eine CD-Rom. "Ich habe mich gesammelt und in Zahlen umgerechnet", sagt Michael Brynntrup, der sein Leben auf die CD-Rom »Netc.etera - Der Film zum Film« gepreßt hat. Seit 20 Jahren macht er in Berlin Filme, die gut als Untergrund durchgehen. Auch mit Udo Kier, den wohl mehr Leute kennen als Michael Brynntrup. Die Ironie seines programmatischen Mottos trifft jeden, der von CD-Rom und Internet allein neue Fragestellungen erwartet. Brynntrup zeigt: Es sind vielleicht doch alte Fragen - aber mit neuen Antworten. Wer das Motto nicht verstanden hat, kriegt von Brynntrup bei der Eröffnungssequenz einen Tritt in die Fresse: "Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig, selbst ich sehe in Wirklichkeit ganz anders aus."

Ja wie, jetzt die alte Geschichte? Der einzige Unterschied, daß nun Leben in Zahlen statt in Worte verlagert, umgerechnet wird. Diese Befangenheit ist bald vergessen. Denn man kann spazieren gehen im Zentrum Brynntrups künstlerischer und privater Existenz. Als Quicktime-VR (virtueller Rundgang) gibt er sein Arbeits- und Wohnzimmer dem Rezipienten preis. Man kann machen was man will, heranzoomen, was einen interessiert und natürlich die roten Tagebuchordner überm Schreibtisch nach "Geheimnissen" durchsuchen. Voyeurismus als Triebfeder der Selbstvermarktung. Denkt man. Aber irgendwann ist das Gegenteil erreicht. Alles ist nach eigenem Belieben zu durchwühlen, hervorzuzerren unter die Augen des Betrachters, Lesers, Hörers, der sieht was er sehen will. Schreien will man: "Hol dir deine Macht zurück Autor." Der lacht und antwortet mit einem Filmchen: Seine Hände streichen Tagebuchseiten glatt. "Das ist mein Tagebuch, das meine Hand, das ist die Uhr." Und immer wieder dieselbe Geste: Die Hände des Autors streichen über die Seiten. Das ist zum Lachen. Allerdings ist es hier die eigene Erwartungshaltung das Objekt des Vergnügens. Wie kann man an die ordnende Hand des Autors glauben, nachdem Kunst sich im 20. Jahrhundert gerade dadurch auszeichnete, nicht mehr autoritär strukturiert zu sein?

Jetzt sitzt man da mit der CD-Rom und muß sich etwas anstrengen. Brynntrup macht sich einen Spaß draus, seinen armen User in dieser Hilflosigkeit mit Material zuzuschütten. Drei Filme, 27 Gemälde, 400 Tagebuchseiten, Informationen zu 54 Filmen und eine statistische Auswertung der gedrehten Filmminuten und geschriebenen Tagebuchseiten des Künstlers innerhalb der letzten Jahrzehnte. Alles ist offengelegt und doch nichts lesbar. Wie die Tagebuchseiten, deren Buchstaben einfach nicht scharf genug werden. Die Metapher aus dem Fundus neuer Medien sagt uns jetzt: Wer eine Tagebuchseite lesen will, muß sie für 50 Mark bestellen. Der Rezipient muß sich Brynntrup erarbeiten. Aus 678.233.872 Bytes statt aus 9504 Seiten. Nur für Hardcore-Fans geeignet.

(Konrad Lischka, "Privat gibt's nich'!", Junge Welt, Berlin, 17./18.02.01)



monografischer Artikel | monographic review
Detlef Kuhlbrodt, "Das Ich ist ein Dummy" (»NETC.ETERA - Der Film zum Film«), die tageszeitung - kultur, Berlin, 15.12.00

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