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biographische Artikel | biographic articles

Zu spät gekommen. Eine Betrachtung über West-Berlins queere Filmkultur
(Auszug zu Michael Brynntrup)
von Marc Siegel


(...) [Die Super-8 Filmer/innen] waren nie wirklich daran interessiert, »gute« Filme zu machen, sondern schnelle, billige, persönliche oder sozial und politisch aktuelle Filme. Die Super-8-Szene zeichnete sich durch ihren kollektiven Geist aus, durch ihren Erfindungsreichtum beim Machen der Filme sowie bei deren Präsentation und durch ihr Engagement, das Filmemachen als Teil des alltäglichen Lebens zu verstehen. In einem wichtigen Artikel über die deutsche Experimentalfilmgeschichte kontrastiert Christine N. Brinckmann die Vitalität der Super-8-Szene der 1980er Jahre mit der »Präzision und formalen Meisterschaft« früherer Experimentalist/innen wie Heinz Emigholz, W+B Hein und Klaus Wyborny. »Unbelastet von den finanziellen Bürden und der komplexen Technologie der 16mm-Produktion konnten sie frei und spontan arbeiten und entwickelten darin eine besondere Ästhetik. Viele ihrer Filme tragen den Charakter roher Entwürfe und sind kurz, intelligent, unprätentiös, erfinderisch und subversiv.« Für Michael Brynntrup, eine der maßgeblichen Figuren dieser Szene und einer der wichtigsten queeren Filmemacher seiner Generation, ist »Super-8 kein Format, sondern eine Lebensauffassung.« [1] Brynntrup führt weiter aus, dass »Perfektion nicht zu den ersten Qualitätsmerkmalen der Super-8 zählt.« Vielmehr liegt die Herausforderung des Mediums in seiner »Offenheit für Newcomer. Die Unbefangenheit, sich mit diesem billigen Medium auszudrücken, sieht man vielen S-8-Filmen auch an; die Einfachheit mancher S-8 Filme wirkt jedoch auf viele, die noch Phantasie besitzen, eher stimulierend; einige sagen sich »das kann ich auch«, und planen damit schon ihren eigenen S-8-Film.« [2]

Unter den Super-8-Filmer/innen der 1980er Jahre blieb Brynntrup einer der produktivsten und erlangte wohlverdiente internationale Anerkennung. [3] Er ist auch als einer der vielen bedeutenden Filmschaffenden seiner Generation bekannt, die bei Gerhard Büttenbender und Birgit Hein an der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste studiert haben. [4] Obwohl er seine Studien in Braunschweig erst 1987 begann, wird sein weites Oeuvre retrospektiv gern durch diese Kunsthochschullinse betrachtet. Vor 1987 war er wohl weniger mit der Kunstwelt, als vielmehr mit der Welt des Kleinbildfilms, kollektiver Filmproduktion und der Besetzer/innenkinos beschäftigt.

Brynntrup kam, nach einer halbjährigen Reise durch Italien, 1982 in West-Berlin an. Während der Reise hatte er sich selbst das Filmemachen beigebracht, zum Teil inspiriert von der Lektüre des wegweisenden Buches von Birgit Hein über den internationalen Avantgardefilm, Film im Underground (1971). [5] Schnell fand er seinen Weg in die wachsende und sehr offene Super-8-Szene, auch begann er regelmäßig für die taz über Entwicklungen innerhalb dieser Bewegung zu schreiben. In seinem ersten Artikel machte er die Leser/innen auf die erste Ausgabe des bevorstehenden internationalen Interfilm Festivals für Super-8-Filme aufmerksam, das vom Gib-8 Kino, dem Gegenlicht Filmverleih, und dem Film-Performance Projekt u.v.a organisiert wurde und bemerkte mit Bescheidenheit: »Ich selbst bin neu in Berlin und arbeite gerade an meinem ersten S-8-Film. Für mich wird’s eine spannende Reise durch diese »Neue Welt« der Super-Acht: Ich hoffe, dass davon zu Euch etwas »rüberkommt«.« [6] Anfang 1983 vereinte sich Brynntrup mit beinahe 20 Filmemacher/innen, Künstler/innen, Musiker/innen und anderen aus der Besetzer/innenkino-Szene, um das Kollektiv OYKO (ausgesprochen otsh-ko, wie das russische Wort für »Äuglein« oder »kleines Auge«) zu gründen. OYKO, in Kreuzberg/Neukölln zuhause, war eines von vielen Kollektiven, die in der Welt des Westberliner Super-8-Filmschaffens, seiner Verbreitung und Vorführung aktiv waren. [7] Am 17. Juli 1983 organisierte OYKO auf der Hasenheide in Kreuzberg eine erste öffentliche Veranstaltung: Auf fünf Leinwände – besser auf fünf Bettlaken – wurden unter freiem Himmel Super-8-Filme projiziert, von Livemusik begleitet. Solch ein expanded cinema-Ereignis war nicht untypisch für eine Super-8-Welt, in der innovative und performative Methoden der Filmpräsentation gediehen. In seinem ersten Jahr präsentierte OYKO außerdem Filme im Hinterhof des Besetzer/innenkinos Eiszeit und produzierte den Episodenfilm Heimat?... Eine subjektive Ortsbestimmung (BRD 1983), welcher 1984 im Internationalen Forum des Jungen Films lief. [8]

Für Heimat steuerte Brynntrup den Film »Der Rhein – ein deutsches Märchen« (BRD 1983) bei, eine Reflektion über den Tod eines Onkels, der während des Zweiten Weltkriegs als 18-Jähriger gefallen war. Familienfotos und Familienfilme sowie Originalmaterial vereinend ist dieser frühe Film eine geradlinige, persönliche Meditation über die banale Beharrlichkeit des täglichen Lebens einer Familie in einem kleinen Dorf im Rheinland während und nach dem Krieg. Brynntrup richtet einen zärtlichen und doch süffisant-kritischen Blick auf das anscheinend unreflektierte Verhältnis der Familie zum Nationalsozialismus, sichtbar in den schönen und eindringlichen Doppelbelichtungen von Kriegsbildern und den darunterliegenden Urlaubs- und Familienfilmen von Brynntrups Familie aus der Nachkriegszeit. Wie Maximilian Le Cain richtig bemerkt, kann Der Rhein – ein deutsches Märchen als beispielhaft für die Grundstimmung in vielen der darauffolgenden Filmen Brynntrups gesehen werden: eine »Verspieltheit überschattet vom Tod«. [9] In Brynntrups Werk wimmelt es nur so von Schädeln und Skeletten. Zwischen 1988 und 1993 arbeitete er zum Beispiel an einer visuell beeindruckenden Serie von acht Kurzfilmen, allesamt unter dem Titel Totentänze und durch das wiederkehrende Erscheinen eines Totenschädels vereint. In diesen Filmen übernimmt der Schädel unterschiedliche Funktionen – zum Beispiel als Trinkgefäß für ein naives junges Mädchen (Totentanz 1, BRD 1988) oder als Mörser, in welchem ein hübscher arisch-blonder Junge Gewürze zerreibt (Totentanz 2, BRD 1988). Der Schädel offenbart sich dabei als flexibles, gar provokatives Symbol oder »Nicht-Symbol«, wie Brynntrup konstatiert. [10] Totenköpfe schmücken Brynntrups Filme wie so viele Requisiten in Künstler/innen-Ateliers oder wie als modisches Beiwerk auf den Jackenaufschlägen junger Rebell/innen, doch sie verlieren bei Brynntrup nie ganz ihre Verbindung zum Tod. Seine ästhetische Wiederinbesitznahme dieses aufgeladenen Symbols suggeriert, dass für ihn der Tod sehr wohl von Verspieltheit überschattet sein mag.

Brynntrups abstrakten, persönlichen Filme der 1980er Jahre sind nicht auf die Art schwul wie es etwa Praunheims oder Specks Filme sind – sprich in jenem expliziten Fokus auf »geoutete« schwule Charaktere und wiederzuerkennende Settings schwuler Subkultur. Die homoerotischen Bilder und die ästhetische Sensibilität, die seine Filme durchdringen, finden dennoch in anderen queeren Werken, die sich der erotischen Reorganisation des Blickfeldes verpflichten, einen Widerhall. Brynntrup selbst merkt an, dass seine Arbeit oft »gewisse schwule Momente« beinhaltet. [11] Sein »Stummfilm für Gehörlose« (BRD 1984), eine Reflektion über Zeichensprache und bewegte Bilder, beinhaltet beispielsweise Zeichen, die Homosexualität repräsentieren, so wie Penis und Hoden, und sein »Tabufilm I-V« (BRD 1988) behandelt ziemlich eindeutig seine eigene Homosexualität und sein Coming-Out. Des Weiteren konfrontiert fast jeder Brynntrup-Film die Zuschauer/innen mit der ziemlich affektierten – um nicht zu sagen schwuchteligen – Anwesenheit des Filmemachers selbst, als Joker oder als tuntige Erzählerfigur, oft in unterschiedlichen Formen des Drag. In einem Interview von 1989 sagt Brynntrup: »Ich glaube, es ist klar, dass meine Filme von einem schwulen Filmemacher gemacht wurden. Ich habe halt keinen exklusiven Schwulenfilm gemacht. Und was ist überhaupt ein homosexueller Film? Ein traditionell erzählter, mit nichts mehr als einer schwulen Geschichte. Ich denke, dass es eine schwule Identität gibt, ebenso wie eine schwule Kultur oder eine schwule Ästhetik.« [12] Wie bei seinem Kollegen in Sachen Super-8, Derek Jarman, einer wichtigen Figur für die Berliner/innen dieser Szene, wurden Brynntrups Filme gegen Ende der 1980er Jahre, als die AIDS-Epidemie zu einer steigenden Politisierung schwuler kultureller Produktion führte, selbstbewusster schwul oder queer. [13] In diesem Sinne antworten Brynntrups Totentänze auf andere lyrisch-ästhetische Reaktionen auf die Epidemie. (...)


Marc Siegel, "Zu spät gekommen. Eine Betrachtung über West-Berlins queere Filmkultur" (Auszug zu Michael Brynntrup), In: "Wer sagt denn, dass Beton nicht brennt, hast Du’s probiert? Film in West-Berlin der 80er Jahre / Who says concrete doesn’t burn, have you tried? West Berlin Film in the ‘80s", Hgs./Eds. Stefanie Schulte Strathaus & Florian Wüst (Berlin: b_books verlag 2008), 62-81. (Übersetzung: Stefan Pente)



[1] Michael Brintrup, »Alle Macht der Super Acht?«, in: Super-Acht in Berlin und anderswo, Berlin 1987, S. 41. Brynntrup (der sich damals Brintrup schrieb) brachte diese kleine Broschüre selbst heraus. In ihr sind Artikel versammelt, die er 1982 und 1983 für eine Reihe über Super-8 im Berlin-Teil der Berliner tageszeitung (taz) geschrieben hatte, zusammen mit einem Artikel, der 1985 im vierzehntägig erscheinenden Berliner Magazin tip veröffentlicht worden war. Diese Broschüre bietet einen unentbehrlichen Insider-Einblick in die Super-8-Szene.
[2] Brintrup, »Offenheit, Unmittelbarkeit, Spontaneität«, in: Super-Acht, S. 10.
[3] Neben Vorführungen bei internationalen Filmfestivals wurden Brynntrups Filme 1992 auch im Zusammenhang mit einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York gezeigt. Siehe den Katalog Lebende Bilder / still lives (Berlin: MBC Productions 1992). Siehe dazu auch Birgit Hein, »Self Portrait with skull«, und Steff Ulbrich, »Interview with Michael Brynntrup«, in: Brüning, Berlin, S. 17-19 und S. 21-28; Mike Hoolboom, »The Death Dances of Michael Bryntrupp«, und Silvia Hallensleben, »Die Statik der Eselsbrücken«, in: Millenium Film Journal, 30/31, Herbst 1997, S.39-42 und S.43-47; sowie Kuzniar, S. 195-206.
[4] Wie auch beispielsweise Bjørn Melhus, Matthias Müller, Claudia Schillinger und Caspar Stracke.
[5] Birgit Hein, Film im Underground, Frankfurt am Main: Ullstein 1971. Viele der Informationen zu Brynntrups Zeit vor Braunschweig erhielt ich in einem Interview mit dem Filmemacher am 16. Juni 2008.
[6] Brintrup, »Interfilm, taz-Serie, Super-Acht«, in: Super-Acht, S. 3. Für mehr Informationen zu Interfilm und über die Super-8-Bewegung in Deutschland im Allgemeinen siehe auch Kai Söltners informative Magisterarbeit Experimentalfilme auf Super-8 im Bund der Deutschen Filmamateure, Frankfurt am Main 2004, http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2007/3867 (letzter Zugriff 18. 9. 2008).
[7] Einige der an OYKO Beteiligten kamen von der Teufelsberg Produktion, einem Film- and Performancekollektiv um Ogar Grafe, Barbara Hamer, Bob Schneider, Ades Zabel und Hermoine Zittlau, dem eigentlich wesentlich mehr Aufmerksamkeit in der Auseinandersetzung mit der (schwulen) Westberliner Super-8-Szene zukommen müsste. Die Teufelsberger begannen 1980 mit Sinnfilm (BRD 1981) und setzten ihre Arbeit während der 1980er und bis in die 1990er Jahre mit ihren Drag-Filmen fort, in denen sie Berlins Kleinbürgertum parodierten. Sie hatten großen, publikumsübergreifenden Erfolg mit ihrer Filmserie Drei Drachen vom Grill (BRD 1987-92), der Parodie einer beliebten Westberliner Fernsehserie über die drei Betreiberinnen einer Imbissbude. Die Teufelsberger zeigen nachwievor ihre »made-in-Berlin« Drag-Komödien vor großem Publikum.
[8] Dieser Super-8-Heimatfilm wurde fast ein Jahr vor Edgar Reitz' berühmter Fernsehserie mit dem selben Titel fertiggestellt.
[9] Maximilian Le Cain, Being Michael Brynntrup, http://www.sensesofcinema.com/contents/05/36/michael_brynntrup.html (letzter Zugriff 18. 7. 2008).
[10] Siehe Ulbrich, »Interview«, S. 21.
[11] Ebd, S. 24.
[12] Ebd.
[13] Wie Brynntrup mir mitteilte, verfestigte Jarmans regelmäßige Präsenz bei der Berlinale seine Bedeutung für die Berliner Super-8-Szene. Brynntrup traf Jarman (und wurde von ihm gefilmt) auch im Zusammenhang mit Super-8-Vorführungen in England Mitte der 1980er Jahre; siehe hierzu Bert Rebhandl, Rette dein Leben!, taz, 12. Juni 2008. Gegen Ende der 1980er Jahre wurde Brynntrup immer stärker Teil der Westberliner Tuntenszene und arbeitete eng mit BeV Stroganov, Tima die Göttliche, Ichgola Androgyn und Ovo Maltine zusammen. In diesem Kontext freundete er sich auch mit dem Fotografen Jürgen Baldiga an, dessen Buch Tunten / Queens / Tantes - Ein Männerfotobuch (Berlin: vis-a-vis-Verlag 1988) diese und zahlreiche andere bekannte Westberliner Drag-Persönlichkeiten dokumentiert. Baldiga, der 1993 an den Folgen von AIDS verstarb und über den Brynntrup seinen bewegendem Film Aide Mémoire – ein schwules Gedächtnisprotokoll (D 1995) machte, hat in den 1980er Jahren selbst eine Reihe bemerkenswerter Super-8-Filme gedreht, u.a. Darum oder was erwartest Du? und Green Dolls (beide 1981).

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