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EIN BLICK DURCHS MIKROSKOP - Gesprächsnotizen
von Michael Höfner


Michael Brynntrups Filme lassen sich nicht mit herkömmlichen Bezeichnungen klassifizieren. Sehen wir einen Dokumentarfilm? Einen Spielfilm? Einen Lehrfilm? Einen Stummfilm? Jeder von Brynntrups Filmen enthält Elemente dieser Gattungen, jedoch ist auch jeder seiner Filme so verschieden vom vorherigen, daß man meinen kann, der Regisseur wolle sich einer Einordnung entziehen.

Brynntrups Filme scheinen vor allem eins zu sein: persönlich. Es gibt Anhaltspunkte: Brynntrup ist meist sein eigener Hauptdarsteller, oft sein einziger. Seine Kamera ruht wohlgefällig auf ihm, wir sehen ihn in allen Lebenslagen, wir sehen, wie er im Lauf der Jahre Moden und Stile durchlebt, sich (äußerlich) ändert.

Wir sehen scheinbar Privates: Bilder aus Alben seiner Familie, die er mittels einer Komposition von Bartok und Normal-Acht-Urlaubsaufnahmen zum beklemmenden Horrorszenario einer sogenannten unbeschwerten Jugend werden läßt (»DER RHEIN - ein deutsches Märchen«, 1983).

Wir sehen ihn in seiner Wohnung, erkennen ihn, wenn er mit der Kamera von Zeit zu Zeit in einen Spiegel schaut. Wir sehen, wie er zu leben scheint, zwischen Flokati-Teppich und selbstgemalten Bildern, zahllosen Selbstportraits an den Wänden und ungezählten Totenköpfen (»MUSTERHAFT - das Ende, ein Intermezzo«, 1985).

Und wir glauben, das sind die Fakten, das ist sein Leben. "Das, was die Leute im Film zu sehen bekommen, das ist es, das ist schon alles. Punkt. Was authentisch ist, glaubhaft oder nicht, müssen die Leute selbst entscheiden." - "Das Leben ist eine Lotterie, und die Auswüchse sind ohne Gewähr." - "Via Film läßt sich ein Leben nicht eins zu eins abbilden, zum Betrachter bringen; da gibt es immer noch etwas dazwischen, eben Film." Sollen wir vermuten, daß er uns listig an der Nase herumführt, daß er uns ein Bild von sich, von seinem Leben nur vermitteln will. Was ist Form, was ist echt? Brynntrup: "Ich spiele gern mit der Wahrheit. Sowieso, - Film ist letztendlich immer Illusion." Ist es aber überhaupt wichtig, ob ein Film, ob seine Filme wahr sind? Warum scheinen sie vor allem eins zu sein: persönlich?

Brynntrups Filme sind von einer ganz erstaunlichen Kraft, voller Faszination, vielleicht auch deswegen, weil er mit dem Hinschaueffekt arbeitet, mit dem er uns als voyeuristische Zuschauer für sich gewinnen kann. Seine Filme sind nicht nur Arbeiten eines Filmkünstlers, sondern auch eines Filmkönners, eines Filmemachers, der sich nicht damit begnügt, die Kamera draufzuhalten und den Rest den untergeordneten Handwerkern und Technikern zu überlassen, wie es sogar beim 'Autorenfilm' die Regel ist.

Wir sehen von ihm selbst realisierte Mehrfachbelichtungen, Falschfarbentechniken, komplexe Überblendungen, Handkolorierun- gen, Kontrastverstärker. Schwarzweiß-Schriften, Positiv-Negativ-Bilder verändern sich plötzlich, werden selbständig, bestimmen die Handlung, den Inhalt (besonders deutlich in »HÖLLENSIMULATION«, 1987, wo Leonardos Menschenbild quasi re-animiert wird).

Brynntrups Filme enthalten viele wiedererkennbare, variantenreich wiederkehrende Stilelemente: so etwa der selbstgestaltete Titelvorspann, der oft genug glauben macht, daß der Vorführer den Film nicht richtig eingelegt habe, weil der Regisseur bereits mit der Allonge, dem Vorspann mitsamt den Zeitmarken, seine Spielchen treibt, sie zu einem originären Bestandteil seiner Streifen macht.

Aus Kritzeleien werden geniale Bilder, Zeichnungen entstehen und vergehen, das Filmmaterial wird bearbeitet bis zum scheinbaren Geht-Nicht-Mehr. Dann, plötzlich, sehen wir vielleicht ein Bildnis, ein Foto des Regisseurs. Dann ein selbstpräpariertes Testbild, dann den Titel 'Ende', doch der Film geht weiter (»TABU I- IV«, 1988).

Brynntrups Filme wirken wie ein Blick durchs Mikroskop. Amöben schwirren scheinbar durchs Bild, Bazillen bewegen sich auf Objektträgern, "Rests und Tests aus der Prototypenforschung." (»DIE STATIK DER ESELSBRÜCKEN«, 1990). "Ich möchte den Tastsinn der Netzhaut reizen, und die Gehirnwindungen körperlich spürbar machen." Von ihm selbst belichtetes Filmmaterial entwickelt Brynntrup auch selbst. Mehr als der vielbeschworene final cut gibt ihm dieses Vorgehen die vollkommene Kontrolle über das Ergebnis seiner Arbeit. Und kurz zurück zum Thema Privatheit: vermuten wir ruhig einmal, daß er durch seine Filme auch sich selbst entwickelt. "Formale Experimente anhand inhaltlicher Selbstversuche", wie er selbst, persönlich, seinen Film »DIE STATIK DER ESELSBRÜCKEN« kennzeichnet.

Mit diesen 'selbst-entwickelten' Mitteln erzählt Brynntrup seine Geschichten. Bei ihm ist das Medium wirklich die Botschaft. Nur durch das Medium kann der Regisseur erzählen, erzählen durch seinen Umgang mit dem Filmmaterial, durch die Bearbeitung des Films, durch die Technik. Die Technik wird zur Kunst. Wird sie auch zum Inhalt? "Wenn man nach dem Inhalt von Kunst fragt, sieht man in jeder Äußerung nur Rhetorik. Fragt man aber nach der Form von Kunst, dann zeigen sich oft die erstaunlichsten Inhalte."

Brynntrups Filme wirken rätselhaft. Zwei seiner Arbeiten, paradoxerweise gerade die, die sich ganz konventioneller filmischer Mittel bedienen, bezeichnet er als "Rätselfilme" (»ORPHEUS«, 1984, und »NARZISS UND ECHO«, 1989). Bei diesen soll "der Inhalt aus dem formalen Gefüge des Films erraten werden". Auch hier spielt er wieder, spielt mit der Neugier des Zuschauers. Derjenige Zuschauer, der rät, ge-rät in eine Sackgasse, gilt es doch, die Aussage des Films nicht zu erraten, sondern aus dem "formalen Gefüge" zu erkennen. Das Medium ist die Botschaft.

Wer von Brynntrups Themen gehört hat, Tod, Todesstreifen, Tod Christi, Totenkopf, Totentanz, der vermutet Depression, Schwermut, Tristesse. Auf die Stimmung in den meisten seiner Filme treffen diese Vermutungen jedoch kaum zu. Brynntrup hat einen ausgeprägten Sinn für bizarren Humor. Durch diesen Humor jedoch werden seine Aussagen auch wieder ernsthaft. So ist etwa der von ihm geleitete »JESUS - DER FILM« (1985/86) zu einem zutiefst religiösen Werk geworden, auch wenn wir auf den ersten Blick Blasphemie zu erkennen glauben. (In der 'Verkündigungs-Episode' projiziert Brynntrup den Jesus-Fötus in den Bauch der hochschwangeren Maria-Darstellerin, Kreuz und Dornenkrone aus Stacheldraht inclusive.)

Michael Brynntrups Filme wirken abstrus, unfaßlich, wirr. Ihr Aufbau ist jedoch logisch, so logisch, wie im Kopierwerk Bild an Bild gelegt wird. Dem Zuschauer bleibt die Aufgabe, diesen Vorgang anzuhalten, die 24 Bilder, die ihm Brynntrup pro Sekunde vorführt, zu entwirren, zu entschlüsseln. Wenn dem Zuschauer dies gelingt, dann wird er auf Wahrheiten stoßen, die ihn im Innersten berühren.

(Michael Höfner, Ein Blick durchs Mikroskop, gedruckt in: Lebende Bilder - still lives, Katalog zur Cineprobe Film Exhibition im Museum of Modern Art, New York - Berlin, April 1992)

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