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biographische Artikel | biographic articles

Von der Filmwerdung des Selbst
Michael Brynntrup, ein Identitäter
von Helmut Merschmann


"Ein Rätselfilm ist die besondere Form des Unterhaltungsfilms, bei dem der Inhalt aus dem formalen Gefüge des Films erraten werden muss." Mit diesen Worten, die dem Film »Narziss und Echo« (1989) vorangestellt sind, ließe sich ebenso jedes andere Werk im umfassenden Oeuvre von Michael Brynntrup beschreiben und darüber hinaus auch die Gattung, der alle angehören: dem Experimentalfilm. Der 1959 im westfälischen Münster geborene Michael Brynntrup zählt zu den wenigen deutschen Experimentalfilmern, die erfolgreich auf einem Gebiet der Kinematographie tätig sind, das den meisten Kinogängern vollkommen fremd ist. Seit beinahe zwanzig Jahren erkundet Brynntrup in seinen experimentellen Kurzfilmen die Untiefen des filmischen Mediums wie der eigenen Seele. Von »September, Wut, eine Reise« (1982), in dem ein Studienaufenthalt des Filmemachers mit Goethes Italienreise in Beziehung gesetzt wird, bis zum diesjährigen »Kein Film«, der als Flash-Animation im Internet genau genommen auch keiner ist. 54 Werke sind bislang entstanden, die sich mal mehr, mal weniger kohärent mit den Empfindsamkeiten des Michael Brynntrup beschäftigen, seiner Sicht der Dinge. "Persönlicher Film" oder "Psychodrama" wird das beliehene Experimentalfilmgenre genannt, das in diesem Fall allerdings mehr Fragen über die Person des Filmemachers aufwirft, als sie beantwortet. Rätselfilme eben.

Grob lässt sich das Oeuvre in Filmcollagen und narrative Filme unterteilen. Experimentiert freilich wird in beiden Kategorien - vorzugsweise mit dem eigenen Selbst. Unter der Klammer des persönlichen Bezugs hat Michael Brynntrup besonders in seinen Collagen zu einer Ästhetik gefunden, die mit den verschiedensten künstlerischen Techniken gekonnt jongliert. Die Tagebuch-Filme »Tabu I-IV« (1988) sowie »Tabu V« (1998), jeweils bestimmte Lebensetappen des Künstlers umspannend, benutzen Umkopier-, Animations- und Stopptricktechniken, arbeiten mit Grafik, Schrift und Spielsequenzen, (sich überlagernden) Stimmen und Musik. Vielschichtig wird auf diese Weise vom Dasein des routinierten Tagebuchschreibers Brynntrup erzählt, dessen Leben in seine Kunst einfließt und vice versa. "Wovon man nicht sprechen kann - darüber kann man Filme machen", heißt es im zweiten Tabu-Film. Wie im Rausch fliegt ein Leben vorbei, das sich bloß scheinbar leicht in die geordnete Welt zwischen zwei Buchdeckel fügt. Die Anstrengung indes, die in der Sammel- und Sortierarbeit steckt, in der Überarbeitung und Filmwerdung der eigenen Existenz, korrespondiert mit der formalen Komplexität des Werkes.

Weniger auf einer formal-filmischen als auf einer narrativen Ebene experimentieren die Kurzspielfilme von Michael Brynntrup. In ihnen ist die Entourage an Vertrauten, Liebhabern und Gleichgesinnten porträtiert, mit der der Filmemacher sich umgibt. In der aus acht Kurzfilmen bestehenden »Totentanz«-Serie setzt er einigen von ihnen intime, manchmal auch bloß banale Filmdenkmäler. In »Aide Mémoire« (1995) wird der schleichende Aidstod des Fotografen Jürgen Baldiga als »schwules Gedächtnisprotokoll« festgehalten und die Freundschaft der beiden Künstler besiegelt. Im schon erwähnten Kostümkurzfilm »Narziss und Echo« sind die beiden Helden aus der griechischen Mythologie auf typisch Brynntrupsche Weise porträtiert: Von Drag Queens aus der Berliner Schwulenszene dargestellt, entfaltet sich ihr Drama als Spiel aus Sehnsucht und Selbstsucht. Der spiegelsymmetrisch angeordnete Film findet in der neobarocken Kulisse einer Berliner Parklandschaft statt, wo eine schillernde Gruppe verkleideter Tunten mit ihrem pfauenhaften Auftreten kokettiert. Auf einer metaphorischen Ebene kommt auch die Tragik zum Ausdruck, die auf die doppelte Ausgrenzung dieser Minorität innerhalb der schwulen Subkultur verweist. Ironie des Schicksals: Der Film wurde seinerzeit von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW) als "albern und tuntenhaft" deklariert, ihm das Prädikat verweigert. Das Erhabene und das Profane liegen nicht nur bei Brynntrup manchmal dicht beisammen.

The artist formerly known as MB

Wenn es ein Symbol sowohl für die Weltsicht des Michael Brynntrup als auch für die formale Struktur vieler seiner Filme gibt, dann ist das der Kreis. Das ganze Leben ist ja ein einziger Kreislauf, und insofern drehen sich die Filme von Brynntrup vornehmlich um ihn selbst. Nun ist aber das Bild einer Person kaum mit ihr identisch. In jeder Kunst, die auf das Leben und die Biografie eines Künstlers rekurriert, oszillieren wahre Begebenheiten und gesicherte Fakten mit insgeheimen Wünschen und herbeigesehnten Fiktionen. Dieses Spiel mit der dosierten Informierung seines Publikums über die eigene Person beherrscht Brynntrup virtuos. Man kann nie sicher gehen, ob die Auskünfte, die er über sich erteilt, zutreffen oder nicht. Hat der angeblich bei der Geburt verstorbene Zwillingsbruder tatsächlich existiert? Stimmt die Zahl der Liebhaber, die im »Loverfilm« (1996) aufgelistet werden? Oder handelt es sich um kleine Schummeleien, erfundene Tatsachen? Der Filmemacher mag das Mehrdeutige und liebt es, wie er sagt, "Halbwahrheiten" zu streuen und "Verwirrung zu stiften", ein Bild seiner selbst zu entwerfen, das immer nur den Charakter einer flüchtigen Option trägt.

Oft genug sind diese Bilder von nicht allzu festem Bestand, sondern einer permanenten Verwandlung ausgesetzt. Wie beispielsweise in »Herzsofort.Setzung« (1996), wo sich zum rhythmischen Kameraklicken ein koloriertes Polaroid von Michael Brynntrup fortwährend verändert. Bereits mit »Handfest - freiwillige Selbstkontrolle« (1984) versucht Brynntrup die Beziehung zwischen sich und dem Filmbild, zwischen Modell und Medium auszuloten und als Prinzip der Identitätsfindung zu gestalten. Oder vielmehr umgekehrt: als Prinzip der Identitätsgestaltung zu erfinden. Da werden Passbilder aufgerastert, Körperteile fotokopiert, vergrößert und sortiert. Immer wieder tauchen Hände auf, die schreiben oder zeichnen und soeben Geschaffenes wieder verwerfen. Am Ende beginnt die abgebildete Person auf der Leinwand, ein Eigenleben zu führen, eine künstliche Existenz. In »Die Statik der Eselsbrücken« (1990) ist man mit dem ebenso fiktiven Lebenslauf von Michael Brynntrup konfrontiert. In endlosen Zeichen- und Kopierläufen, Doppelbelichtungen und Spiegelungen wird die ironische Vermessung des eigenen Selbst betrieben, dabei häufig auf Fremdmaterial zurückgegriffen. Zur "Arme-über-dem-Kopf-Lage" des schlafenden Brynntrups wird etwa aus dem "Großen Lexikon der Charakterkunde" zitiert: "Diesen Schläger beunruhigt nichts. Das Leben ist so leicht, dass es ihm fast unwahrscheinlich erscheint". Stimmt das denn? An späterer Stelle dankt Brynntrup dem Filmbüro NRW wegen der erhaltenen Förderung, "obwohl das Leben eigentlich teurer ist". Wie wahr - und doch sind es nur Wenige, deren künstlerischer Existenz eine solch exemplarische Bedeutung beigemessen wird.

Besonders in seinen Collage-Filmen inszeniert Michael Brynntrup sich als zeitgenössischer, postmoderner Künstlertypus, für den Originalität und die ’Aura' eines Kunstwerks an Bedeutung verloren haben. Sie sind den reproduktiven Mechanismen des Mediums zum Opfer gefallen, aufgelöst worden in die Vielschichtigkeit der filmischen Selbstreflexion. Selbst die Künstlerhand und Unterschrift - einstmals untrügliches Indiz des Künstlergenies - sind nur noch als Zitat präsent. In »Handfest« wird eine "andalusische Hand" gezeigt, in der sich geschnittene Fingernägel statt lebender Ameisen krümmen. In den »Tabu«-Filmen blättert jemand die Tagebuchseiten um und zeigt mit dem Finger auf bestimmte Textpassagen, nimmt den Betrachter an der Hand und führt ihn durch das vermeintliche Leben des Filmemachers, das eine Inszenierung ist. Wenn nun aber eine Künstlerhand die Originalität ihrer Schöpfung nicht mehr gewährleisten kann, wie sieht es dann um die Existenz des Schöpfers aus? Konsequenterweise verkauft Michael Brynntrup die Seiten seines Tagebuches als "Original-Farb-Fotokopie - garantiert, nummeriert, handsigniert, limitiert, lizenziert und undzensiert" zum Stückpreis von fünfzig Mark.

Die Wiederkehr des Immergleichen

Immer wieder tauchen die gleichen Motive und Sujets in den Werken Michael Brynntrups auf: Memento mori. Brynntrups Obsession mit dem Tod und dessen kulturgeschichtlich mannigfaltigen Repräsentationen äußert sich in einem fast schon nekrophil zu nennenden Kult um die Symbole des Vergänglichen und Sterblichen. Totenschädel und Skelette, die er sich gar in die eigene Haut ritzen lässt, bevölkern viele Szenen und zählen zu den Standardrequisiten, mit deren Hilfe uns der Filmemacher die ständige Anwesenheit des Abwesenden vor Augen hält - nicht immer mit ganz ernsthafter Intention. »Veronika (vera ikon)« (1986) macht sich den Umstand zunutze, dass man beim Abfotografieren des Turiner Leichentuchs "das echte Abbild Jesu in seiner ganzen Schönheit" zu erkennen glaubte, weil es selbst einem fotografischen Negativ ähnelte. In marktschreierischer Werbemanier ("Sehen Sie die ewigen Geheimnisse! - NEU!") macht sich Brynntrup über den katholischen Sakraltourismus und die Heiligenidolatrie lustig. In diesem Werk sind auch Szenen aus dem Episodenfilm »Jesus-Der Film« (1986) eingebaut, einer frühen und respektlosen Auseinandersetzung mit des Filmemachers Lieblingsmotiven aus der Bibel. In »Testamento Memori« (ebenfalls 1986) wird dann der Beischlaf mit dem eigenen Tod - symbolisiert durch einen Totenschädel - vollzogen.

Neben solchen wiederholt verwandten Requisiten basiert Brynntrups Arbeitsmethode überhaupt auf den Stilprinzipien von Alliteration und Redundanz, Selbstzitat und Wiederholung. Schon Filmtitel wie »Die Statik der Eselsbrücken - Eine optische Enttäuschung« oder »Plötzlich und Unerwartet - eine Déjà-Revue« (1993) zeigen Brynntrups Vorliebe für schräge Wortspiele und ostentativen Hintersinn auf. "So oder so äähnlich könnte dieser Film äänden", heißt es in »Tabu I-IV«, "oder so äähnlich." Brynntrups Werke sind voller Wortverdrehereien, Anspielungen und listiger Späße. In endlosen Referenzzirkeln recycelt er das eigene Schaffen - manchmal leicht verfremdet, meist direkt übernommen, lediglich gekürzt. Neben mannigfachen Ausschnitten aus dem eigenen Werk kommt immer wieder auch Fremdmaterial und Found-Footage zum Einsatz, deren Urheberschaft ungeklärt bleibt. Interessanterweise behandelt Brynntrup beides gleichwertig und degradiert damit das Selbstgefilmte, das auf diese Weise den Status von gefundenem, autorenlosem Material erhält. Eine größere Distanz zum eigenen Werk kann ein Filmemacher wohl nicht entwickeln.

Mitspielfilme und multimediale Interaktionen

Als ideal für seine Arbeitsweise und Absichten wird Michael Brynntrup das Aufkommen neuer medialer Kommunikations- und Speichermedien erschienen sein. Schließlich kommt die offene Struktur des Internet den ineinander verschachtelten Experimenten dieses Filmemachers ziemlich nahe. Auf seiner Homepage (www.brynntrup.de) wird dem verzweigten Gestus des World Wide Web zunächst aber Einhalt geboten. »Hier endet das Internet«, ist dort zu lesen, und man erhält Eintritt in die hermetische Kunstwelt des Michael Brynntrup, die einem hermeneutischen Zirkel gleichkommt: Alles dreht sich wieder nur um ihn und um sich selbst. Und so finden sich auf der Website die schon vielfältig bekannten Motive aus dem langen Künstlerschaffen. Konzentrierter noch als in den Filmen wird an der Vermessung des Selbst gearbeitet, auch anhand eigens angefertigter Statistiken, die Aufschluss geben über Künstlervita und die Rezeption seines Werks. Jeder Besucher der Website wird statistisch erfasst und in die Kunstwelt inkorporiert. Auch der aktuelle Kurzfilm »Kein Film« ist hier im Original als Internet-Version anzutreffen.

Derzeit sitzt Michael Brynntrup an einer weiteren Webkunst-Arbeit: Sein Film »Plötzlich und Unerwartet - Eine Déjà-Revue« (1993), in dem Udo Kier die Hauptrolle spielte, soll als "Mitspielfilm" für das Internet aufbereitet werden. Auf der Basis kleiner Flash-Animationsfilme ist es dem Nutzer möglich, in den Ablauf des Spielfilms einzugreifen, der auf einem Friedhof stattfindet und die Vorkommnisse während einer Begräbnisfeier aus drei Perspektiven zu einem Kreislauf vereint. Der Mitspieler nimmt an einem Quiz teil und hat an verschiedenen Stellen Fragen zu beantworten, die es ihm - falls richtig beantwortet - erlauben, sein eigenes Skelett zusammenzusetzen und schließlich der eigenen Beerdigung beizuwohnen. Parallel dazu arbeitet Brynntrup an »Netc.etera«, einem CD-ROM-Projekt. Handlungsort ist die Künstlerklause, der Arbeitsraum des Michael Brynntrup in Berlin-Neukölln, der als Quicktime-VR für den Nutzer dreidimensional begehbar wird. 99 so genannter Hot Spots (Anklickflächen) erlauben den tieferen Einblick in die Künstlerwelt, die abermals recycelt und wiederaufbereitet wurde: In Form von drei Experimentalfilmen, 27 Porträts, 400 Tagebuchseiten und viele Informationen mehr. "Das Leben ist eine Silberscheibe", meint Michael Brynntrup - es dreht sich weiter und weiter.

(Helmut Merschmann, "Von der Filmwerdung des Selbst - Michael Brynntrup, ein Identitäter", veröffentlicht in: epd-film, Frankfurt a.M., September 2000; ebenso in: Die Filmklasse der HBK Braunschweig, Oktober 2000)

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