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biographische Artikel | biographic articles

ORDNUNGEN FORMALER AUSNAHMEZUSTÄNDE
von Christoph Tannert


Längst ist die Bildende Kunst ausgebrochen aus den Refugien der Galerien und Museen, längst ist der klassische Rahmen von Malerei und Skulptur gesprengt. Längst hat sich die junge Generation eigene Podien, neue Medien erobert.

Die Poduktionen sind formal breit gefächert, eine ästhetische Dominante ist nicht auszumachen. Techniken der Deformation, Abstraktion und Destruktion tauchen ebenso auf wie Allegorien auf Praxis und Produktion. Neben der Politdokumentation steht die freie Erzählung, die konstruktive Subjektphantasie neben dem Cross-over-Projekt. Alles scheint möglich im Zusammenfluß der Traditionen mit den Experimenten der sechziger Jahre. DADA-Ironie und Dilettanten-Heroismus treiben ihre Blüten. Medienspektakel und Hand-made-Maler-Filme setzen Zeichen in der Sackgassenwirklichkeit. Seit mehr als zehn Jahren lebt eine Avantgarde fernab der Museumstempel und Kinopaläste, die mit cineastischen Projektionen ein abseitiges Blicksystem installiert hat, von dem man sicher noch reden wird.

Michael Brynntrup ist unbestritten einer der Fixsterne in diesem System. Seine extreme, zuweilen narzistische Ich-Perspektive ist tragischer Entwurf wie radikale Selbstaufklärung. Ständig wiederkehrendes Thema seiner Kurzfilme auf Super-8- und 16mm-Material ist das des Todes - behandelt als zentrales Leitmotiv, doch gebrochen in den unterschiedlichsten Varianten und Interpretationen. In einem Pool von Erinnerungs- und Reflexionsfragmenten demontiert Brynntrup Kindheitstraumata und realisierte (Familien-) Geschichte in ihrer permanenten Ausbreitung von Macht, Disziplin, Dressur, Zwang und Gewalt. Deutsch-Sein und Identität, die potentielle Vergiftung der Gene und der gesellschaftliche Seitensprung, Religion, Homosexualität und schwelgerisch ins Bild gerückte Momente der Vergänglichkeit quirlt Brynntrup auf in einer 'Totentanz'-Folge, die mit der Provokation kokettiert, letztendlich aber, das ist typisch für unser Jahrzehnt, lieber in Reminiszenzen denkt.

Brynntrup entwickelt eine Chaosproduktion, die das Gleichgewicht der filmischen Übereinkunft stört. Mit einem unbeschwerten Omnipotenzgefühl mischt er plüschige Dramatik und mediale Kritik, Wagner-Bombast und ein Abstandsverhalten zur totalisierenden Form. Eine wahrlich deutsche Form bewußter poetischer Katastrophe.

Sein »JESUS-FILM« (1985/86), »DIE BOTSCHAFT« (1989) oder »MODERN, das« (1991) spielen mit der Bildästhetik der Malerei von der Renaissance bis zum Eklektizismus des 19. Jahrhunderts. Andere Filme berufen sich atmospährisch auf Derek Jarman und Peter Greenaway, formal auch auf Luis Bunuel, Rene Clair und Kurt Schwitters. In einem Neben- und Ineinander verschiedener Ausdruckslagen sind alle Filme Brynntrups bekenntnishafte Tagebücher und historische Physiognomien zugleich. Sie sind einerseits eindeutig wie Steckbriefe und liegen doch auch im Dunkel der Vieldeutigkeit.

Mit Ironie und belebender Unernsthaftigkeit unterminiert Brynntrup additive Strukturen und Paraphrasen auf kunsthistorische Muster. Würde dieses Korrektiv fehlen, schlüge sein Interesse am Ich wohl unweigerlich um in pure Selbstbespiegelung. In »NARZISS UND ECHO« (1989), im Jahr darauf mit dem dem Preis der Deutschen Filmkritik für den experimentellen Film ausgezeichnet, widmet sich Brynntrup genau diesem Gang auf des Messers Schneide. Neben strukturalen Korrespondenzen und Spiegelungen zielt der Film auf eine Hinterfragung der herkömmlichen Allegorie der nackten Wahrheit (in Gestalt des Narziss). Der Aspekt der nuda veritas tangiert Brynntrups Existenz, nämlich des schwulen, katholisch erzogenen Experimentalfilmers, grundsätzlich. Stil und Arbeitsprogramm benennen unterschwellig sein Agieren als gesellschaftlicher Rollenträger bzw. seine Obsession, in Zeit und Vergänglichkeit auszusteigen aus Klischees und zwanghafter Bestimmung. Die Todesbezüglichkeit nähert sich so dem Gedanken an einen offenen, freien Erlebnishorizont.

Mit der wechselseitigen Anfechtungsfläche des Hier und Jetzt, des Vorher und Nachher, dem Einfrieren des Augenblicks, christlicher Erlösungshoffnung, Vanitas und Memento mori hatte Brynntrup bereits seine Filme »DER ELEFANT AUS ELFENBEIN, Totentanz 1-3« (1988) codiert. Dazu gibt er folgende Erklärung ab: "Die Totentänze handeln nicht vom Tod - es geht um das Leben." und "Hiermit erklärt der Autor ausdrücklich und unwiderruflich, daß er sich bereits anderweitig gegen Atomtod und Todesstrafe ausgesprochen hat."

Brynntrups Filme protestieren so wenig wie sie Abtötungsverfahren für eine kritische Sicht auf menschliche Zivilisation sind. Die Vermeidung von Eindimensionalität macht sie offen für verschiedene Bedeutungsebenen, die sich ineinanderschieben, da sie um Tod und Eros kreisen. Die Facetten sozialer Wirklichkeit scheinen sie zu berühren und zu beleben. Stichwort: Aids.

Die Diffusion des Subjekts am eigenen Beispiel konstatiert zu haben, seine psychischen Bruchlinien und sozialen Deregulationen - das macht Brynntrups Filme zu geistigen Widerspruchsgefügen.

Die mit Wollust inszenierten schillernden Rituale und farbigen Sinnbilder, Brynntrups opernhafte Zelebrierung von Kunstwelten aus Brokat und Licht geben manchem Film einen Hauch von Les fins des siecles. Visconti, Fellini und Pasolini hätten das gemocht. Doch weil Brynntrup die Leinwand einerseits zum autobiographischen Netz und andererseits zum Segel eines Traumschiffs macht, haben seine Filmlabyrinthe mehr als nur die übliche Zerstreuungsqualität des Kinos.

Brynntrups Bild- und Filmzeitgefüge lebt wesentlich aus der Wechselwirkung zwischen Bildender Kunst / Kunstgeschichte und Lebenden Bildern / Film. Serielle Experimente im Bereich der Copy Art werden für Filme animiert, die Vorlagen dieser Trickfilmsequenzen werden zu großformatigen Tafelbildern arrangiert.

Zeichnungen und Collagen bestimmen Wahrnehmungsgeschwindigkeit und den Live-Charakter der Kompilationsfilme »TABU I-IV« (1988) und »DIE STATIK DER ESELSBRÜCKEN« (1990). Die Abfolge von Einzelkadern und Bildgruppierungen hat oft etwas Zeichnerisches, eine zeichnende Hand, eingefügt als Signet, besiegelt die konzeptionelle Bastelarbeit. Der Film entsteht vor den Augen des Betrachters.

Dokumentarisches Archivmaterial aus eigener Produktion bestimmt das 'puzzlige' System dieser Filme. Dekorationen, Reliquien auch Fotos, Videoprints aus fertigen Filme werden zu bild-künstlerischen Arbeiten weiterverwandt. Bildspannung wird durch ein nomadisches Prinzip hergestellt, das formale Kettenreaktionen auslöst, nach denen sich dann die (Film-) Wirklichkeit entwickelt.

Die Frage, ob Leben Filme erzeugt oder Lebensentwürfe nicht mehr sind als Filmremakes, ist auch für Michael Brynntrup noch nicht entschieden. Lebende Bilder - still lives.

(Christoph Tannert, Ordnungen formaler Ausnahmezustände, gedruckt in: Lebende Bilder - still lives, Katalog zur Cineprobe Film Exhibition im Museum of Modern Art, New York - Berlin, April 1992)

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