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Interview | interview

Videoführung mit Michael Brynntrup durch die Ausstellung GELBFIEBER (Till Nikolaus von Heiseler, 11.06.2011 und Uwe Bohrer, 12.06.2011)


CHINAKINO

Hier an diesem Ort, genau an dieser Stelle hat die Ausstellung GELBFIEBER ihren Anfang genommen. Ich war eingeladen, an einer Ausstellung hier in der Galerie M in Berlin-Marzahn teilzunehmen. Und bei der ersten Besichtigung der Räumlichkeiten ist mir gleich dieses Kuriosum aufgefallen: direkt an die Galerieräume grenzt ein Restaurant an, nur durch eine Glaswand getrennt. Dieser Raum hinter der Glaswand sollte ursprünglich ein Galerie-Café sein; so war es zumindest vom Architekten geplant. Durch Umnutzungen im Laufe der Zeit ist es dann aber ein eigenständiges Restaurant geworden, ein Chinarestaurant. Und die Glaswand ist dann quasi zugemauert worden, mit Stellwänden und Kartonplatten.

Für mich und meine Installationsidee wurde diese Glaswand dann aber essenziell. Ich hab die Wand wieder großflächig freigelegt, so dass nun der Blick ins Chinarestaurant und der räumliche Zusammenhang zur Galerie sichtbar werden. „Solo City Zhuhai (CHINAKINO)“ ist also eine ortsspezifische Arbeit. Sie besteht aus dieser frei gelegten Glaswand, einer speziellen Bestuhlung, einem Foto des Eingangs zum Chinarestaurant und einer Videoarbeit auf einem großen Flachbildmonitor.

Die Bestuhlung ist die des Chinarestaurants. Der Besitzer des Restaurants hat mir zwei Tische und diese Stühle für die Installation zur Verfügung gestellt, und das Ensemble wurde auch in der Galerie jeden Tag frisch eingedeckt. Was ich besonders schön finde ist, dass man, wenn man hier in diese Situation hereinkommt, durch die verschiedenen Schrägen, Kanten und Ecken nicht wirklich weiß, wo hört das Chinakino, die Installation, auf und wo fängt das Chinarestaurant an. Die Glaswand ist quasi halbtransparent, durch die besondere Lichtsituation in der Galerie wird die Wand partiell auch zum Spiegel. Man kann durch die Wand schauen und sieht die Ausstattung des Restaurants, aber gleichzeitig spiegelt sich die Bestuhlung in der Galerie. Dadurch entsteht eine doppelte Irritation über die Dimensionen, Räumlichkeiten und Bestandteile der Installation.

Auf den Stühlen kann der Betrachter, der Galeriebesucher, Platz nehmen. So kann er ganz relaxed die Installation und eben auch den 10-minütigen Film anschauen, der auf dem Flatscreen läuft.

Der Film heißt „Solo City Zhuhai“ und ist auch für sich, unabhängig von der Installation, existent, d.h., er wird in minimal abgeänderter Form auch im Kino oder auf Festivals gezeigt. Das mache ich ja übrigens häufiger, dass ich entweder filmische Arbeiten zu einer Installation erweitere oder Aufnahmen, die für eine Installation entstanden sind, dann auch noch für eine Singlescreen-Videoarbeit verwende.

Die Aufnahmen für diesen Film habe ich schon 2005 in China gedreht, und jetzt endlich zu eben diesem Film fertig gemacht. In dem Film geht es hauptsächlich um Architektur, und zwar um moderne, chinesische Großarchitektur. Genau genommen ist es die Campusarchitektur der Beijing Normal University - Campus Zhuhai, wo ich 2005 einen Lehrauftrag hatte. Ich war fasziniert von der Größe des gesamten Campus, der im Übrigen einer der größten in Mainland Red China ist. Die Bauzeit der Anlage betrug nur zwei Jahre und die Bauarbeiten waren, obwohl schon 6 000 Studenten auf dem Campus waren, noch nicht ganz abgeschlossen.

In der Installation habe ich die Bilder dieser zeitgenössischen chinesischen Großarchitektur mit dieser deutsch-chinesischen Restaurant-Innenarchitektur kombiniert. Ich habe da ein Spannungsfeld gefühlt: China, wie wir es an jeder Straßenecke in Deutschland erleben, und China, wie wir es kaum kennen, bzw. das reale, weit entfernte China, wie es nichts mit dem gestylten Deko-Kitsch oder unserer Klischee-Vorstellung zu tun hat. Die traditionelle Formenwelt findet sozusagen nicht statt. In China wird groß geplant und groß gedacht, think big - für Nippes ist da kein Platz mehr und Traditionen werden da einfach weggebaggert.

Der Film zeigt das. Er zeigt aber auch eine damit einhergehende Entmenschlichung und Werteentleerung. Der Campus wurde auf dem Reißbrett entworfen und mitten in die Pampa gesetzt. Die vorgegebene Natur wurde kaum beachtet, aber ein Ideal mit künstlichen Seen und kubistischen Natursteinelementen angelegt. Die Verlassen- und Verlogenheit dieser Anlage kommt auch ganz gut in der Musik des Films zum Ausdruck. Wie gesagt, habe ich die Aufnahmen ja schon 2005 gemacht und gleichzeitig habe ich den Musiker Alan Morse Davies in Hongkong kennengelernt. Er hatte mir dort seine Musik vorgestellt und ich wusste schon 2005: diese Bilder und diese Musik, die gehören einfach zusammen. Sein Musikstück heißt „Solo City“, und das ist dann auch direkt der Titel geworden für meinen Film bzw. diese Installation.

Die Musik basiert auf ganz minimalen Sound- und Klangelementen, eine Art Weltmusik-Collage mit asiatischem Einschlag. Diese Musik ist ja auch der einzige Sound, der in der gesamten Ausstellung hörbar ist bzw. hier offen aus den Lautsprechern tritt und sich auch über die CHINAKINO-Installation hinaus im Raum ausdehnt.


CCTVCC

Die nächste Installation gehört in gewisser Weise noch mit der CHINAKINO-Installation zusammen. Sie macht großen Sinn genau auf dieser Gegenwand bzw. Rückwand der Kinoinstallation. Schon beim CHINAKINO gibt es ja diese Reminiszenz an die allgegenwärtigen TV-Screens in Restaurants und Imbissen, gerade auch wie man sie in China selbst überall antrifft. Immer läuft da ein TV-Apparat im Hintergrund. Und diese Installation, die rückseitig auf der Galerie-Trennwand zur Restaurant-Situation aufgebaut ist, greift das spezielle Thema des TV/Fernsehens noch mal auf.

Ich nenne die Installation „CCTVCC“. Wobei das CCTV im Grunde genommen zwei Bedeutungen hat. Einmal ist es die Abkürzung für 'Central China Television', das ist in China der staatliche Haupt-TV-Sender, der, so wie die ARD in Deutschland, gleich auf mehreren Kanälen sendet. Und das englische CCTV heißt ja 'Closed Circuit TV', das ist das Synonym für alle Arten von Überwachungskameras. Also in dieser Installation geht es um Senden und Empfangen, auch darum, wie wir oder speziell die Menschen in Asien, in China, verdrahtet und verkabelt sind.

CCTVCC ist eine Foto-Video-Installation. Dazu gehört, dieses spezielle Monitorpult, was wie ein Touchscreen aussieht und den Betrachter vielleicht zu einer Interaktion verleitet, und zwei Fotos an der Wand hinter dem Pult. Dieses Gesamt-Arrangement könnte auch woanders so wieder aufgebaut werden, obwohl es nur aus dieser Situation heraus für die Galerie M entstanden ist.

Auf dem ersten Foto direkt hinter dem Pult sieht man eine hohe Palme, aber wenn man das Bild ein bisschen genauer betrachtet, dann erkennt man darin die Camouflage eines Funkmastens. Die Palme ist eine Mobilfunkantenne, ein Telekommunikationssender. Unterhalb des Fotos auf dem Computer-Monitor läuft ein TV-Programm oder präziser gesagt: TV im TV. Das zweite Foto nimmt etwas Bezug auf die postmodern anmutende Konstruktion/Architektur des Monitor-Terminals. Es zeigt einen Blick auf eine gigantische Hochhaussiedlung in Hongkong, die mit ihren vielen, kleinen Fenstern aussieht wie eine Ansammlung von Bienenwaben. Vielleicht sieht der Betrachter eine Verbindung und bemerkt, dass in jeder dieser Wohnzellen eben auch die Empfangs- und Endgeräte unserer Telekommunikationsgesellschaft platziert sind.

Nun denn, die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilen der Installation sind sehr offen. Sogar für mich selbst sind diese Zusammenhänge nicht alle logisch und zwingend miteinander verknüpft, aber eine solche lockere Assoziationskette hat mich bewogen, dies alles, Foto und Film, in diesem Arrangement so zusammenzubringen.

Und was man hier auf diesem Computer-Monitor-Pult original sieht, ist ein TV-Monitor, genauer gesagt das Abbild eines TV-Monitors, und in dem TV-Monitor sieht man in einer schnellen Zappfolge 61 chinesische TV-Kanäle. Dieser Zapp-Cutup ist letztlich ein reines Zufallsprodukt, nämlich das, was in dem Moment gerade im Fernsehen zu sehen war, als ich in einem Hotelzimmer in Guangzhou saß und eben nichts Besseres zu tun hatte, als mich mal darüber zu informieren, was in China im Fernsehen so läuft. Wir sehen hier z.B. MTV, da gibt's das noch, aber auch jede Menge Peking-Oper-Kanäle, Soap-Opern und eben auch viel Werbung. Auffällig sind die vielen CCTV-Kanäle. Letztlich ein Fernsehprogramm, was sich auf den ersten Blick nicht viel unterscheidet von unserem, nur dass es doch exotischer aussieht und vor allem ganz fremd klingt.

Also diese beiden Installationen, CHINAKINO und CCTVCC gehören ein bisschen zusammen. Insgesamt ist die Ausstellung GELBFIEBER herausgewuchert aus dieser Chinarestaurant-Ecke. Mit der ortsspezifischen Arbeit CHINAKINO war das Thema China oder Asien gesetzt. Und dann hatte ich nach einigen Umplanungen die Möglichkeit, die ganze Galerie mit ihren 300 Quadratmetern Ausstellungsfläche als Einzelausstellung zu bespielen. Und so hab ich mich dann mit der ganzen Galerie als Architektur und Raum auseinandergesetzt. Auch mit der Situation, dass die Galerie gegenüber der größten Shopping Mall Ostberlins, dem Eastgate, angesiedelt ist. Und damit kamen auch noch ganz andere Installationsideen und Aspekte ins Spiel.


The Hong Kong Showcase Box

Die Installation „The Hong Kong Showcase Box“ habe ich zum ersten Mal in Chongqing/China in einer Gruppenausstellung realisiert. So wie die Installation hier aufgebaut ist, nimmt sie die hiesigen Gegebenheiten auf, die Shopping Mall gegenüber der Galerie. Das Thema ist also auch dieses Innen-Außen-Verhältnis: wie weit findet sich und spiegelt sich die Realität im Kunst-/Galeriekontext. Die hängende Box ist in der Zentralachse der Galerie aufgehängt, gegenüber dem Eingang. Sie begrüßt den Galeriebesucher. Man kommt von außen durch einen rundum verglasten Windfang in die Galerie, also quasi auch durch eine Schaufensterbox, und man landet zentral vor diesem länglichen Guckkasten.

In diesem Guckkasten sieht man dann einen eigenständigen Film, der auch außerhalb dieser Box auf der Kinoleinwand funktioniert. Und zwar ist das der dreiminütige 'Hong Kong Showcase'. Showcase, englisch, also deutsch: Schaufenster. Was man in dem Film sieht, ist eine Situation, die ich eines Nachts en passant zufällig beobachtet habe, als ich durch Hongkong streifte, und dann mit meiner kleinen Fotokamera gefilmt habe. Eine markante Situation: man sieht die hoch dekorierten Schaufenster des Armani Megastores, wie sie nachts ganz banal von einem jungen Mann geputzt wurden, also sozusagen für den Tag herausgeputzt wurden. Eine Nachtimpression aus Hongkong.

Interessanterweise und erst später hab ich herausgefunden, dass dieser global agierende Armani-Konzern auch eine global angelegte Werbestrategie fährt. Das heißt: an jeweils einem bestimmten Tag werden alle Schaufenster in der Welt, ob in New York, London oder Mailand, gleichzeitig dekoriert. Und zwar immer einheitlich. Der neue Schaufensterlook ist dann von einem Tag auf den anderen überall auf der Welt der gleiche. Insofern ist so eine banale, nächtliche Putzszene fast schon idyllisch.

Und was mich überhaupt bewogen hat, zur Kamera zu greifen, ist ein Detail, das nicht jeder Betrachter des Films überhaupt sieht, das auch nicht wirklich jeder zwingend sehen muss. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass dieser junge Fensterputzer gehbehindert ist. Dieser Fakt bzw. dieser Kontrast: die schöne Welt der Schaufensterpuppen und eben die reale Körperbehinderung des Arbeiters waren für mich letztlich ausschlaggebend, diese Situation festzuhalten. Aber wie gesagt: dieses Detail ist nicht in dem Sinne essenziell, dass jede/jeder das sehen muss, um den Film oder die Installation zu verstehen.

In der Installationsversion und mit diesem Aufbau hab ich versucht, den Aspekt des Innen-Außens, den Aspekt des Fokussierens auf Realität, auch wenn sie noch so absurd erscheint, und den Aspekt des genauen Hinguckens noch zu verstärken. Darum habe ich hier auch die Form des Guckkastens gewählt, der letztlich ja eine frühe Form des Kinos darstellt. Ein Kino zum Reingucken wie durch ein Schlüsselloch. In der frühen Zeit des Kinos war die Neugierde an bewegten Abbildern, auch an banalsten Abbildern der Realität, ja schlichtweg noch am ursprünglichsten. Solch einen Zugang zu Bildern, der auch noch ein naives Staunen erlaubt, mag ich sehr gern.

Vielleicht auch interessant an dieser Stelle, zu bemerken, wie ich mit dem Sound umgegangen bin. Insgesamt in der Ausstellung, oder in diesem speziellen Fall der Hong Kong Showcase Box. Der Film hat einen eigenen Sound, der so natürlich auch wichtig ist. Aber in einer Ausstellung mit mehreren Sounds von verschiedenen Videoinstallationen muss man ja auch den Zusammenklang der Sounds berücksichtigen: wie kommt das Audio aus verschiedenen Quellen in so einer Gesamtinszenierung einer Videokunst-Ausstellung zusammen!?

Hier ist es also so, dass man die Originalmusik des Films quasi nur hört, wenn man dicht an der Öffnung des Guckkastens vorbeigeht. Also man hört sie nicht, wenn man neben der Box steht, sondern nur, wenn man an diesem Quasi-Sprachrohr vorbeikommt. Dann fühlt man sich eventuell auch akustisch angezogen und guckt dann vielleicht etwas tiefer in die Box hinein. Wenn man sich mit seinem Kopf etwas in den Kasten hineinlehnt, dann kommt sogar noch ein ganz eigenartiger Soundeffekt hinzu: man hört dann die Musik überhaupt erst richtig, in ihrem ganzen, subtilen Klangumfang, aber man nimmt sich selbst dazu auch noch wahr, einfach weil man sich in so einem verdichteten Resonanzraum befindet. Da wird die eigene Akustik deutlich. Ganz anders, als wenn man sich z.B. einen Kopfhörer aufsetzt.


Südkorea Trance

Und apropos Kopfhörer, haha, das führt uns auch direkt zu der nächsten Installation, die hier vis-a-vis aufgebaut ist. Bei dieser Installation ist der Sound ganz entscheidend. Man sieht, wenn man sich dieser einfachen Monitorinstallation nähert, zunächst nur eine Menge Leute wild tanzen. Wenn man dann den Kopfhörer aufsetzt, ist man schier erschlagen von dem Trommelrhythmus und der Lautstärke. Man ist regelrecht bedröhnt von der Musik. Mit dem Kopfhörer ums Grosshirn geschnallt gelangt man quasi in einen Out-of-space oder in eine Art Cyberspace.

Die Installation heißt „Südkorea Trance“ und auf den Bildern sieht man etwa 100-150 ältere Leute mit Trommeln und Gongs, wie sie sich langsam im Kreis bewegen, aber auch extrem ausflippen zu diesem monotonen Rhythmus, als seien sie auf Ecstasy oder irgendwie auf Droge. Sie trommeln sich selbst in so eine Trance rein. Und was ich dabei interessant fand, ist, dass es hier gar keinen Dirigenten gibt oder auch nur eine Ansage wie: so, wir fangen jetzt an, zwo – drei – vier. Sondern diese älteren Herrschaften kommen da sonntags nachmittags einfach hin und fangen an zu trommeln und alle trommeln mit. Sie bewegen sich langsam im Kreis, wie in einem Schwarm. Das Ganze hat so eine schwarmartige Struktur, die einen Rhythmus hat, den Rhythmus auch verändert, aber alles – westlich gesprochen – ohne Dirigenten, ohne jemanden, der kommandoartig den Takt angibt. Also das war ein großes Phänomen für mich.

Auch diese Aufnahmen sind, ähnlich wie beim Hongkong-Showcase, ganz beiläufig entstanden. Ich bin mit meiner HD-Kamera an einem Sonntagnachmittag durch die Parks von Seoul gestreift und habe diese Situation entdeckt. Die Parks sind voll mit alten Menschen und Rentnern, sie spielen da Schach und andere Brett- und Kartenspiele, singen Karaoke, machen Tai-Chi-Übungen etc. Die Parks sind wirklich proppenvoll, es gibt da mehr Rentner als Grünpflanzen! Dann hörte ich dieses Trommeln, was über der ganzen Szenerie lag, und bin zu dieser Musik hingegangen, hab mich direkt hypnotisch angezogen gefühlt.

Diesen Aspekt von Hypnose und Trance hab ich versucht, in der Installation zu verstärken - durch den rhythmischen Bildschnitt und den quasi Ohr-implantierten Sound. Ich denke, dass dieses Setting den Betrachter auch direkt körperlich anspricht, der Sound und diese Leute, wie die da ausflippen. Es ist die volle Dröhnung, der man sich nicht entziehen kann, und man muss quasi sofort mitmachen. Ich bin sehr froh, dass mir das in diesem Fall mit einfachsten Mitteln gelungen ist.

Man kann darüber hinaus vielleicht zu einer weiteren Überlegung kommen: auffällig ist ja das Alter der Tanzenden. Wenn man genau rechnet, ist dies die Generation Koreakrieg. Entweder sind es Veteranen des Koreakriegs oder Personen, die den Koreakrieg als Kinder miterlebt haben. Nur 50 Kilometer nördlich von Seoul verläuft die künstliche, innerkoreanische Grenze auf dem 38. Breitengrad. Dort wurde zwar 1953 ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, aber einen Friedensvertrag gibt es bis heute nicht. Wenn auch dieser fortwährende 'Kriegszustand' im Alltag Koreas gar nicht spürbar ist, so glaube ich dennoch, dass diese Generation ganz wesentlich geprägt ist von diesem anhaltenden Ausnahmezustand.

Die Südkorea-Installation ist aber keine vertiefte Reflexion, sondern eher eine beiläufige Notiz. Es gibt eine weitere Installation, in der ich solche Notizen aus verschiedenen asiatischen Ländern gesammelt und zusammengetragen habe. Wenn ich in fernen Ländern bin, habe ich meine Videokamera dabei. Und wenn ich mich so durch die Städte bewege und mir etwas auffällt, dann verharre ich. Und in diesem Fall, im Park in Seoul, habe ich mehrere Stunden die Situation gefilmt, aus verschiedenen Perspektiven. Ich insistiere, verharre, aber letztlich bleibt es eine Notiz.


Universal Time Coordinated

Die nächste Installation besteht z.B. aus ganz vielen solcher Notizen, die ich gesammelt habe und dann natürlich sortiert und komponiert habe. Ursprünglich habe ich durchaus gedacht, dass jede dieser Notizen zu einem eigenen, neuen Projekt ausreifen könnte. Also ich hab eine Notiz gemacht, sozusagen wie die Skizze eines Malers mit der Idee, dass daraus eventuell mal ein großes – sozusagen – Landschaftspanorama in Öl entstehen könnte. Aber in meinem Fall ist es zu dieser großen Ausarbeitung der Skizzen nicht gekommen bzw. das wäre zu aufwändig gewesen bzw. ich messe diesen Notizen eben auch ihren eigenen Wert bei. Für mich war es wichtig, die Notizen in ihrer Beiläufigkeit und Subjektivität als Notizen zu präsentieren.

Was ist dies!? Ja, diese Installation heißt „Universal Time Coordinated“ und was zunächst ins Auge sticht, ist diese Möbel-Konstruktion, ein Sechseck-Terminal. Dieses Konstrukt mit seinen sechs Monitoren und den darüber angebrachten Uhren mit den jeweiligen Uhrzeiten verschiedener Länder erinnert mich ein bisschen an Monitoraufbauten in der Börse oder an Infosäulen, wie man sie auf Flughäfen findet. Das Konstrukt erinnert mich an solche globale Kommunikationsschnittstellen, wo Informationen zusammenkommen und ausgetauscht werden.

Der Titel bezieht sich auch darauf: 'Universal Time Coordinated' ist die so genannte Weltzeit, eine wichtige Größe in unserer global organisierten Welt. Das Internet und der globale Handel wären ohne diese vereinheitlichte, koordinierte, normierte Weltzeit nicht denkbar. UTC ist eine international festgelegte Größe, damit die Welt sozusagen richtig tickt.

Die Uhren suggerieren Objektivität: so ist die Welt. Auf den sechs Monitoren darunter würde man nun vielleicht Zahlenkolonnen, Listings, Infos, Fakten, statistische Kurven etc. erwarten. Aber auf diesen Monitoren laufen eben meine höchst subjektiven Notizen. Meinetwegen auch Bagatellen oder Faszinationen. Auf jeden Fall eben meine momenthaften Bilder, die mir subjektiv bedeutsam schienen. Darin besteht vielleicht auch das Spannungsfeld dieser Installation, dass sie so eine globale Objektivität und meine höchstpersönliche Subjektivität kontrapunktisch zusammenbringt.

Manche Bilder sind eher einfach gehalten wie z.B. dieser tropische Regenfall für mehrere Minuten. Das ist vielleicht nur ein schönes Bild und zeigt meine Faszination an diesem Naturphänomen. Aber was wir hier z.B. sehen, diese Patpong-Situation, das ist eine hoch spannende Geschichte. Das ist in Bangkok. Da wird jeden Tag in der Patpong-Straße ein Nachtmarkt für Touristen aufgebaut. Patpong befindet sich in einem Twilight-Rotlicht-Destrikt, wie man dann unschwer erkennt, wenn man sich diesen Loop etwas genauer anschaut. Der Loop ist mit 38 Minuten übrigens der längste in dieser Installation.

Tagsüber wird also der Nachtmarkt aufgebaut und das erzeugt einen Höllenkrach. Da wird jede Menge Metall bewegt, Metallstangen für die Stände und große Metallkisten mit den Waren. Naja, und die Subjektivität, die in diesen Aufnahmen steckt, ist natürlich, dass ich doch relativ stark fasziniert war von diesen hübschen Asia-Boys mit ihren nackten Oberkörpern, wie sie sich da so körperlich engagieren. Zu dieser Patpong-Situation bin ich im Laufe der Jahre ganz oft hingepilgert, das war für mich einen private Pilgerstätte. Das kann ich auch jetzt schon prophezeien: wenn ich wieder nach Bangkok komme, werde ich da landen und dort wieder einen Tag mit der Videokamera verbringen. Also das ist extremes subjektives Muss, ja. Natürlich frage ich mich, ob ich nicht, auf meine Art, auch nur ein oberflächlich interessierter Tourist bin, womöglich ein Sextourist. Diese Frage klingt an, ist aber nicht das Thema der Installation. Ich erlaube mir hier die Spontaneität meines Interesses, und gehe dann ja auch noch weiter mit meinen Gedanken.

Die Gesamtinstallation ist so angelegt, dass auf dieser subjektiven Bilderebene ein leichter Wechsel stattfindet, von einem Monitor zum anderen. Da hab ich eher schlichte, statische Aufnahmen wie z.B. diesen Monsunregen mit den vom Wind gepeitschten Palmen und daneben dann eine eher narrative Sequenz wie eben Patpong. Und dann kommt wieder, wenn man etwas weiter herumgeht, dann kommt wieder eine ruhigere Aufnahme, ein quasi meditatives Bild. Das ist jetzt Singapur, ein Loop von 22 Minuten Länge. Ein Blick auf die so genannte Bayfront. Ein ruhiger, weiter Blick über das Wasser, aber am Horizont bzw. am Ufer gegenüber in der Ferne stehen hunderte von Kränen, womit übrigens auch wieder das Subthema Architektur der Gesamtausstellung angerissen ist.

Als ich 2008 in Singapur war, wurde da ein gigantisches Ressort, eine Art Disneyland mit Kasino etc., gebaut, übrigens ganz zentral in der Innenstadt. Eine Riesenbaustelle. Hier haben wir es also wieder mit Großarchitektur zu tun. So wie seinerzeit der Potsdamer Platz die größte Baustelle Europas war, war diese Baustelle in Singapur so eine berühmte asiatische Riesenbaustelle. Insgesamt ist dies aber doch ein ruhiges Bild.

Auf dem nächsten Monitor läuft dann wieder ein etwas hektischerer Arbeitsalltag. Das ist in Korea, Seoul. Wieder eine Notiz: ich war mit der Kamera unterwegs und bin in eine basarartige, labyrinthische Anlage geraten. Da sieht man, eigentlich auch typisch für andere Länder in Asien, enorm viele, kleinteilige, geschäftige Läden. Alles wimmelt und ist wild beschäftigt mit kleinem Business. Das alles in einem weit ausgedehnten Ladenlabyrinth, was sich für einen Fremden gar nicht erschließt.

Ich habe dieses Labyrinth als Loop genutzt. Also ich bin zweimal – auf unterschiedlichen Wegen – durch dieses Labyrinth gegangen und bin dann aber immer wieder an einem bestimmten Punkt angekommen. Dann hab ich die Aufnahmen flüssig als Loop geschnitten. Man ist ja auch – im übertragenen Sinne – in so einem Labyrinth gefangen wie in einer Endlosschleife. Vielleicht auch gefangen in einer Ratlosigkeit angesichts dieser Fremde.

Das nächste ist dann wieder ein ruhigeres Bild. Das war in Manila und ist auch wieder eine einfache Notiz bzw. Beobachtung. Ich saß mit dem Direktor des Eksperimento-Festivals, aber eigentlich als Tourist in einem Café. Gegenüber auf dem Platz gab es diese Streetkids, die wohl auch auf der Straße lebten. Geschäftig sind sie nicht gerade, sie fahren Skateboard oder liegen in der Hitze halbnackt auf den kühlen Stufen und schlafen. Der junge Mann, der da auf den Stufen lag, hat mich schlichtweg erotisiert, muss ich gestehen. Das wird wohl auch erkennbar in den Bildern. Und was noch erkennbar wird, ist das absolute Tele, mit dem die Aufnahmen gemacht sind. Ich zoome aus 100 Meter Entfernung an diese schlafende Schönheit heran. Und das ist ja auch das generelle Thema dieser Installation: wie nah kommt man als Europäer, vielleicht auch als Tourist, wie nah kommt man an die Realität in Asien überhaupt heran. Inwieweit ist der Blick konditioniert, inwieweit intentional, inwieweit fremdbestimmt.

Und hier so ein Versuch, meinetwegen auch ein unbeholfener Versuch, einer erotischen Annäherung. Wie gesagt, bei mir hinterlassen diese Notizen auch eine gewisse Ratlosigkeit insgesamt. Einerseits Ratlosigkeit, andererseits einen Plan. Plan im Sinne von: dies ist eine Skizze, das möchte ich ausbauen, da möchte ich einen Film draus machen, das werde ich großartig inszenieren, mit ganz viel Geld, etc., später mal. Und dann aber auch Ratlosigkeit und Zweifel, ob das überhaupt gelingen kann. Ob diese Faszination an der Fremde nicht gerade in ihrer Unerreichbarkeit und Undurchdringbarkeit liegt. Schließlich hab ich mich für die Notiz in ihrer Beiläufigkeit entschieden. All die denkbaren Projekte sind nicht realisiert worden, und ich habe die Notizen und spontanen, ersten Blicke in dieser Installation zusammengefasst.

Vor allem bei der Notiz auf dem nächsten Monitor, da war mir die Idee für ein größeres Projekt lange im Kopf. Gefilmt von einer Fußgänger-Überführung oder Hochbrücke herunter in das Gewimmel einer ganz normalen Einkaufsstraße in Hongkong, nahe dem Bird Market. In dem Gewimmel ist mir eine Person aufgefallen, und zwar eine alte Lady in pinkfarbenen Pantoffeln, die ihren frisierten, weißen Pudel in einem plüschigen Einkaufsrolly spazieren fuhr. Die Person hab ich dann mit der Kamera verfolgt. Einfach nur, weil ich die Figur mit ihrem Pudel interessant fand, und vielleicht auch, weil ihr ganzes Leben vor meinem inneren Auge auftauchte. Manchmal geht sie im Gewimmel unter, manchmal verschwindet sie in einem Laden, manchmal verliere ich sie – und dann taucht sie plötzlich unvermutet wieder auf. Der Zuschauer wird sich vielleicht fragen: auf was fokussiert der Brynntrup seine Subjektivität denn hier überhaupt. Was ist denn in diesem Gewimmel überhaupt zu sehen. Je nachdem wann man einsteigt in diesen Loop, merkt man, um was es dabei eigentlich geht. Sich einer fremden Person nähern und vielleicht, auch aus der Distanz heraus, etwas Näheres aus ihrem Leben wahrzunehmen.

Neben diesen sechs Monitoren in dem Sechseck-Terminal gibt es noch ein weiteres Bild, das, auch im übertragenen Sinne, neben den anderen Bildern steht. Es ist ein projiziertes Bild auf eine große Wand. Während man das Terminal ja umschreiten kann und muss, ist dieses siebte Bild eine Frontalansicht. Das Bild ist auf eine weiße Wand gebeamt, die auch schon vom Licht der Galeriefenster ganz hell ist. Man erkennt also kaum, welche Bilder da auf die Wand gebeamt sind. Nur wenn man genau hinschaut, sieht man, dass es sich um die Bilder von Fukushima nach der Reaktorkatastrophe handelt. Ikonenartige Bilder. Diese Bilder sind die einzigen in der ganzen Ausstellung, die ich nicht selbst gefilmt habe. Insofern auch außerhalb dieser subjektiven Notizen platziert sind. Es ist eine Sammlung, ein Zusammenschnitt der Bilder, die in der Tagesschau immer wieder gesendet wurden, und zwar unmittelbar nach der Tsunami-Katastrophe am 11. März diesen Jahres. Das war der Zeitpunkt, als ich die Installation UTC konzipiert und ausgearbeitet habe.

Die Sammlung umfasst alle Aufnahmen der Tagesschau zu Fukushima bis zu dem Tag, als Fukushima als Topthema aus den Nachrichten verschwunden ist. Das waren genau 14 Tage. Danach gab es andere Themen, die waren aktueller oder wichtiger: die Hochzeit von William und Kate, die Seligsprechung des Papstes Johannes Paul des Zweiten. Diese Themen haben dann sozusagen Fukushima aus den Nachrichten verdrängt, und damit waren diese Bilder auch sozusagen verschwunden, und meine Sammlung abgeschlossen.

Ich stehe da selbst vor einem Rätsel, ich stehe vor Bildern oder vor der Realität wie vor einem großen Rätsel. Ich bin in irgendeiner Weise fasziniert oder angesprochen, und dann mache ich Notizen oder fange an zu sammeln. Hier bei Fukushima, bei diesen tagesaktuellen Nachrichtenbildern ist mir einfach aufgefallen, dass sie sich alle ähneln: alle sind sfumato-blau, alle sind mit einem totalen Tele aufgenommen, und erst im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass sie damit ja typisch japanischen Bildkonzepten entsprechen. Die Fukushima-Bilder haben mich ganz stark erinnert an die japanische Fujiyama-Malerei. An diesem japanischen Berg haben sich Generationen von Malern abgearbeitet. Und zwar haben die nichts anderes als eben diesen Fujiyama gemalt. Da, so scheint mir, ist eine tiefenschichtige Bildkultur entstanden, die dann in diesen aktuellen Newsbildern aus Fukushima eine Resonanz gefunden haben. Das ist nun im Nachhinein für mich die Erklärung, warum ich von diesen Fukushima-Bildern so fasziniert war oder warum sie mir überhaupt aufgefallen sind.


Hotel Europe Ltd.

Ja, und von einer Installation kommt man zur nächsten. Und zwar ist die nächste dann „Hotel Europe Limited“. Diese Installation befindet sich in einem eigenen, verdunkelten Raum, den man durch einen schwarzen Vorhang betreten muss. Wenn man eingetreten ist, sieht man zunächst drei Monitore auf hohen Podesten und in den Monitoren laufen statische Aufnahmen von langen Korridoren. Wenn man etwas näher an die Monitore herantritt, geht plötzlich ein Licht an, ein gleißendes Flutlicht, was einen direkt blendet, und man kann die Bilder in den Monitoren nur noch erschwert erkennen. Verharrt man einen Moment lang, geht das Flutlicht aber wieder aus.

Dieses Licht ist an einen Bewegungsmelder angeschlossen, der sehr kurz geschaltet ist. 'Hotel Europe Ltd.' ist quasi eine interaktive Installation. Das Flutlicht mit dem Bewegungsmelder erinnert an Grenzanlagen. Eine Selbstschussanlage hab ich mir hier erspart, aber im Grunde genommen geht es um genau das: man bewegt sich und man wird gemeldet, geortet, observiert und abgefangen. Mit dieser Installation thematisiere ich die Situation an Europas Grenzen nach dem Schengener Abkommen.

Die Monitore in dieser Installation sind sehr hoch aufgestellt, man blickt zu ihnen hoch. Mit den drei parallelen, blockartigen Podesten wirkt das Ensemble monumental und fast bedrohlich. Manche sagen, die Installation wirke sakral. Dieser Eindruck gilt vielleicht insofern, als dass der Aufbau Respekt einflößt vor etwas Höherem und man selbst dagegen klein und unbedeutend erscheint. Ich sehe in dem Aufbau aber vor allem eine massive, undurchdringliche, frontale Wand, die ein 'Stop-Now', vielleicht ein 'Passport-Please' signalisiert.

In den drei Monitoren sieht man, wie gesagt, drei statische Aufnahmen von langen Korridoren mit vielen Türen rechts und links, und auf dem zentralen Monitor zwei Türen zu einem Fahrstuhl. Die Situation war folgende: ich war auf einen Interkontinentalflug gebucht, aber mein Zubringerflug hatte Verspätung. Die Fluggesellschaft hat mich daraufhin umgebucht: auf den gleichen Flug aber am nächsten Tag. Ich wurde dann in ein Hotel gleich neben dem Flughafen verfrachtet. Ich hatte also 24 Stunden Zeit und musste abwarten. Eine typische Transit-Situation. Zum Zeitvertreib bin ich durch das gesamte Hotel spaziert und habe bemerkt, dass auf allen zehn Etagen diese Korridore gleich aussahen. Mal hing ein anderes Dekobild an der Wand, aber generell durchzog die Flure ein steriles Kassettenmuster, was wohl wohnlich anmuten sollte, aber letztlich den tristen Anblick dieser architektonischen Standardlösung nur noch verstärkte. Ein monotoner Menschenspeicher, räumliche Vorratshaltung, ein Ort wie auf Abruf.

Was ich in diesem innenarchitektonischen Niemandsland besonders spannend fand, war die Lichtanlage, die durch einen Bewegungsmelder gesteuert war, und zwar in ganz kurzen Intervallen. Kaum dass man sich nicht mehr rührte, ging auch schon das Licht aus. Und dann, wenn man sich nur geringfügig bewegte, ging es auch schon wieder an. Dies ist in den Aufnahmen sichtbar, obwohl ja keine Person auftaucht, immer geht dieses Licht an und wieder aus.

Weil ich ja während der Aufnahmen relativ ruhig dastand, ist mir etwas Anderes, Entscheidendes aufgefallen, was ich dann in der Installation auch noch herausgearbeitet habe: aus den einzelnen Zimmern drang ein fast babylonisches Stimmengewirr. Leise zwar, gedämpft, aber doch deutlich zu vernehmen. Man erkennt nicht die einzelnen Sprachen und Nationalitäten, aber man merkt doch, dass es Sprachen aus ganz verschiedenen Ländern sind. Ein sehr schöner, stiller Sound.

Also die ganze Installation handelt von Transit, Warten und Ausharren. Ich hab in dieser Situation auch an Asylanten bzw. Asylbewerber gedacht, die ja auch oft in der Nähe von Flughäfen in irgendwelchen Unterkünften abwarten müssen. Und sich dann auch in diesem vagen Zustand des Transits befinden. Ich hab die Installation dann ganz bewusst 'Hotel Europa Limited' genannt, wobei das Limited für beschränkt steht und für die Restriktion an den Grenzen.

Zu der Installation gehören auch noch diese drei Tafeln, die sich zum Teil auf das Schengener Abkommen beziehen. Auf der obersten sieht man das Gebiet des Schengener Abkommens im Jahr der Entstehung meiner Installation, also 2004. Inzwischen ist das Schengengebiet ja noch größer geworden. Die zweite Tafel ist das Ergebnis einer relativ aufwändigen Recherche: es ist eine Liste

aller Hotels in Europa bzw. im Europa des Schengener Abkommens, die sinnigerweise 'Hotel Europa' heißen. Also Hotels namens Hotel Europa. Und auf der untersten Tafel haben wir das Schengener Abkommen im Original als Kopie und wer es mag, kann es lesen. Hier gilt jedenfalls: je freizügiger wir in Europa nach innen hin sind, umso stärker ist die Festung Europa nach außen hin abgeschottet. Je offener die Grenzen innerhalb Europas sind, umso geschlossener sind sie nach außen hin. Also sprich: wenn meine asiatischen Freunde nach Europa kommen, dann merken die das im Transit an der Grenze ganz deutlich, was das bedeutet: Europa Limited.


Totale Mondfinsternis über dem Meer (AETHER)

Wir nähern uns jetzt von außen einem Innenraum. Die Installation heißt „Totale Mondfinsternis über dem Meer (AETHER)“. – Ja, hm, was ist das?! Was ist das? Will man da rein gehen oder nicht? Was ist das? Kann man da reingehen? Will man das?

Vielleicht vorab, bevor wir da reingehen, eine kleine Vorabinformation. Da drin läuft ein Film. Der Film heißt 'Totale Mondfinsternis über dem Meer', also gleichnamig wie die Installation, nur der Installationstitel hat, in Klammern, noch einen Zusatz: 'AETHER'. Wie der Zusatz benennt, geht es in der Installationsvariante der Mondfinsternis speziell um Raum, Atmosphäre, Himmel, Elemente und Dimensionen.

Die Box ist 3,5 Meter breit und 4 Meter lang und 2,3 Meter hoch. Es ist ein eigener Raum, der in der Galerie zentral und losgelöst aufgebaut ist. Der Raum hat einen Vorbau, das ist eine Schleuse mit zwei Türen, so dass man, wenn man von außen nach innen kommt oder auch andersrum herauskommt aus der Box, Unterschiede wahrnimmt, und zwar sehr deutlich. Ich nenne die Box Schalldruckkabine. In der Box gibt es eine enorme Lautstärke, da herrscht Schalldruck, und außerhalb eben nicht.

(In der Box). Bei dieser Installation ist es unangebracht, da einfach reinzuquatschen. Es braucht zunächst eine gewisse Zeit, um sich darauf einzulassen.

Der Raum ist schwarz ausgekleidet. Auf einer der Frontalseiten ist das Video projiziert. Die Soundboxen sind im Raum verteilt. Der Sound ist sehr laut, wie man hört. Den Sound spürt man über den Subwoofer auch durchaus körperlich. Es sind die Bässe, die hier Wellen schlagen. Und es ist Surround-Sound, der den Raum füllt. Man kann also, obwohl man das Bild ja nur zweidimensional sieht, man kann und soll sich hier dreidimensional aufhalten in dem Raum. Und meinetwegen auch vierdimensional, also man muss als vierte Dimension durchaus auch Zeit mitbringen, und sich ein wenig einlassen auf das ganze Setting.

Ja, was sehe ich, was Sie nicht sehen?! Was höre ich, was Sie nicht hören?! Also Sie hören erst mal sehr viel: und das ist vor allem sehr laut. Es ist Meeresrauschen, Donner, Gewittergrummeln. Und ich sehe etwas, das ist ein junger Mann, der angelt an einem Ufer eines Meeres. Bei Sonnenuntergang.

Das ist der indische Ozean. Es gibt solche fantastischen Sonnenuntergänge, typisch für die Anrainerstaaten des Indischen Ozeans und für die südostasiatischen Länder. Es ist ein traumhaftes Bild, zu schön, um wahr zu sein. Manche haben sich das Bild stundenlang angeschaut; das Bild verändert sich auch, aber sehr, sehr langsam. Mal taucht hinter dem Jungen der Mond auf, dann wird er wieder verdeckt. Manchmal gibt es 'Phänomene' im Himmel und zwischen den Wolken, aber man ist sich nicht sicher, ob man da richtig geguckt hat. Dann tauchen Fragen auf, ob da etwas ins Bild künstlich reingerechnet wurde oder ob das Bild womöglich komplett künstlich erzeugt wurde. Können wir unseren Augen trauen oder nicht und trauen wir unseren Gedanken oder nicht? Das sind so die Fragen, die sich der Zuschauer stellt.

Hm. Ich kann den Film natürlich völlig entzaubern, dieses Ding da. Aber, hm, damit ist es einfach auch völlig entzaubert. – Und die Frage für mich ist: will ich das!? – Will ich dem Zuschauer alles erklären: aha, so ist das gemacht!? So und so hab ich das geschnitten, diesen und jenen Trick angewandt. – Die Frage, ob es ein Kunstprodukt ist oder Realität. Ja, die Frage ist erlaubt. Und auch beabsichtigt. Aber braucht es eine Antwort darauf!?

Mich interessiert eigentlich mehr, was mit mir selbst passiert. Ich selbst stehe vor diesem Bild wie vor einem Rätsel. Ich hab zwar dieses Bild aufgenommen, mit der Abendstimmung, ich kenne die Hintergründe. Ja, es ist durchaus real, dass der Junge am Meer steht und angelt. Das Bild ist auch insofern inszeniert, dass ich gesagt habe, stell dich da mal hin und angele. Dann fängt der Junge auch wirklich einen Fisch, und das war natürlich schon nicht mehr geplant, konnte man ja nicht planen. Gewisse Dinge waren klar positioniert: der Junge steht vor dem Mond, einer märchenhaften Mondsichel. Ja, der Mond ist real.

Bei einer Gesamtlänge von fast 16 Minuten, die dieser Loop hat, passieren relativ wenige Dinge, aber es passieren entscheidende Dinge. Manche Phänomene, Himmelskörper, die auftauchen und wieder verschwinden wie z.B. die Galaxien, erkennt man sehr deutlich und man weiß ab dann: oh, da ist irgendwas künstlich hinzugefügt, reingerechnet. Das heißt aber noch lange nicht, dass man alles sieht oder gesehen hat, was da so künstlich reingerechnet ist. Bei anderen Himmelserscheinungen ist man sich schon nicht mehr sicher, ob die künstlich erzeugt sind oder ob man die überhaupt richtig wahrgenommen hat oder ob man da womöglich selbst etwas hinzufantasiert hat. Und das finde ich grad das Spannende. Es geht nicht darum, alle künstlichen Dinge bis aufs Letzte zu entdecken, sondern darum, dass man sich selbst diese Offenheit erlaubt in der Wahrnehmung: kann sein, dass ich nicht alles gesehen habe. Kann sein, dass ich etwas dazufantasiert habe. Kann sein, dass ich etwas verpasst habe.

Und, ehrlich gesagt, ich kann garantieren, dass nicht jeder alles sieht. Es gibt z.B. eine Reminiszenz an Caspar David Friedrich. In meinem Video taucht mal ein Ausschnitt aus einem Bild von Caspar David Friedrich auf. Er hat ja viele Bilder mit Mond gemalt und verschiedene heißen auch ähnlich wie mein Video, z.B. 'Mondaufgang am Meer'. Diese Bilder haben mich nicht direkt inspiriert zu dem Video, aber die Verbindung zu Caspar David Friedrich wollte ich schon herstellen, auch wenn sie gar nicht wahrgenommen wird. Für mich spielen die Themen der Romantik in diesem Falle aber eine Rolle: Endlichkeit, Unendlichkeit, Vergänglichkeit. Und wie sich der Mensch positioniert. Ganzkörperlich. Mit Hirn und Sinnen, mit Geist und Seele.

Manche Besucher haben die Installation als Wellnesskabine erlebt. Das ist nicht falsch. Man soll hier hereinkommen und – vielleicht – die Welt vergessen: nichts mehr hören, nichts mehr sehen bzw. schauen, ob man seinen Augen noch trauen kann. Man sieht etwas, und man sieht es nicht. Man soll sich selbst wahrnehmen und dann – vielleicht – die Welt mit anderen Augen sehen. Das Urerlebnis dieser Installation ist so, dass man eben schweigt und staunt. Ja, eigentlich möchte ich jetzt schweigen und staunen.

(Sieben Kostbarkeiten. Eine Videoführung mit Michael Brynntrup durch die Ausstellung GELBFIEBER, Berlin 2011; veröffentlicht in: Katalog GELBFIEBER, Braunschweig 2012).

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