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Pressestimmen | reviews and articles

Jesus lebt!
von Wolfgang Luck

An einem teuflisch kalten Novembernachmittag trifft Communale-Reporter Wolfgang Luck in einem trostlosen Mannheimer Wohnhaus (L8,3) IHN.
Ein Communale - Exclusiv-Gespräch.



"Du bist Luck?" fragt ER, ich nicke und vermute: "Du, Jesus?!". ER lächelt weise und zeigt mir den Weg durch den dunklen Korridor. Ein kurzes Telefongespräch am Vormittag war vorausgegangen: "Das ist eine nette Abwechslung vom Kaffeetrinken, wenn einer von der Presse kommt", freute ER sich und erklärte mir den Weg zu seiner momentanen Missionsstation.

Für Jesus gibt es heute leider doch keine Abwechslung - wir trinken Kaffee und Jesus raucht Selbstgedrehte, kettenweise. Jesus ist hager, trägt blondgefärbtes Kurzhaar und zeigte Modebewußtsein - schwarze Reiterhose, blankgewienerte Springertiefel, die Fingernägel sind länger als bei Messiasen gemeinhin üblich. Verschämt suche ich die Wundmale an den Handrücken. Vergeblich! Nur die Kettenraucherei hat ihre gelben Spuren hinterlassen.

Jesus kann den Zucker für den Kaffee beim besten Willen nicht finden, kein Wunder, ER ist hier nämlich nur zu Gast bei einer guten Seele des Cinema Quadrat, wo er heute Abend seinen Film, DEN Film, nämlich »JESUS - DER FILM« zeigen wird. Jesus hat sich zu diesem Zweck das Pseudonym 'Michael Brynntrup' zugelegt und auch eine passende Biografie erfunden: 1959 geboren in Münster (oho!), studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Freiburg (aha!) Rom (ohlala!!) und Berlin (naja). 18 Kurzfilme will er schon gedreht haben, darunter welche mit so bizarren Titeln wie »Stummfilm für Gehörlose« und »Viele Tiere fressen ihre Nachgeburt auf«. Das waren aber nur Fingerübungen für den großen Wurf, SEIN großes Werk: Ein Monumentalfilm von 135 Minuten auf Super8 "über den Leidensweg unseres Herrn Jesus Christus".

"Kann man einen Monumentalfilm auf Super8 drehen?" JESUS Brynntrup meint: "Bei meiner Recherche zum Film habe ich mir auch einen dieser stundenlangen Technicolor Schinken angeschaut. Da laufen darin die 'Armen' mit zentimeterdicker Schminke im Gesicht durch die Gegend, das ist doch absurd." Brynntrups Monumentalität speist sich aus anderen Quellen: "Immerhin gibt es in unserem Jesusfilm 6 Gottvater, 2 Jesuse und einige Marien."

Super8 war nicht nur wegen der geringeren Kosten Voraussetzung für die Produktion des Films. Brynntrup sammelte 14 Untergrund Super8-Filmer um sich, von denen sich jeder eine Geschichte aus dem neuen Testament aussuchen konnte. Mitgemacht haben unter andern 'Die Tödliche Doris', 'Die Anarchistische Gummizelle', Birgit und Wilhelm Hein, 'Schmelzdahin' und die 'VEB Brigade Zeitgewinn'.

Ein Drehbuch im eigentlichen Sinn gab es nicht, der Reiz des Filmes sollte gerade das unkoordinierte Puzzle der eigenständig verfilmten Geschichten sein. Verbindendes Moment der 37 Episoden - Jesus bleibt immer der gleiche, nämlich ein mit Lust zu Eitelkeit und übertriebenen Gesten durchs Bild wandelnder Brynntrup: "Ich stelle mich bedingungslos den Ausschweifungen der Regie zur Verfügung. Damit ich nicht 20 mal gekreuzigt werde, mußte ich die Episoden wohl aber etwas koordinieren."

Die Methode des scheinbar ziellosen Aneinandereihens, so steckte Brynntrup den Zeitungsleuten bei den diesjährigen Filmfestspielen in Berlin, sei der 'ecriture automatique' der Surrealisten entlehnt, "einem Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne daß der Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann".

Sowas gefällt den Filmrezensenten! Tatsächlich trägt der angeblich so wahllos zusammengepfriemelte »Jesusfilm« dann aber doch die deutliche Handschrift Brynntrups und was wir daraus lernen ist bestenfalls das 'ecriture automatique'- Spiel der Kulturjournalisten, einem Spiel mit Zeitungspapier, in dem es darum geht, einen Artikel zu konstruieren, bei dem jeder Mitspieler von dem jeweils vorhergehenden Artikel Kenntnis hat und blindlings sich Erkenntnisse aus diesen zusammen zu klauen, befugt ist. Jesus schenkt sich Kaffee nach und wird allmählich redselig: "Wenn mich die Presse fragt, wie ich auf die Idee kam, einen Jesusfilm zu machen, sage ich: Nun das war Dezember 85, da war halt Weihnachten und so kam ich auf die Idee." Ich hatte nicht gefragt, aber jetzt frage ich "Und wie kamst Du wirklich auf die Idee?" Jesus Brynntrup zögert und spricht: "Die christliche Mythologie ist in uns allen drin, ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns damit auseinandersetzen." Fast hätte ich ihm etwas von meiner Vergangenheit bei der Katholischen Jugend erzählt, da schob er glücklicherweise grinsend hinterher: "Außerdem ging's natürlich um die Gaudi."

Beginnen wir am Anfang, dem Vorfilm von Almut Iser: Joseph ist eine vibrierende Karotte, Maria eine Pralle Fleischtomate. Tomate gebirt ein Knöllchen - Jesus ist das Knöllchen. Die Hirten (Knoblauchzehen) kommen angewackelt, dem Menschensohn zu huldigen. Dazu die Weihnachtsgeschichte schnoddrig verlesen aus dem Off. Die Weihnachtsgeschichte als Gemüsestory, ein gelungener Auftakt, aber angesichts der Süßigkeiten Firma Haribo, die Weihnachten die Heilige Familie als Gummibärchen zum Weglutschen auf den Markt bringt, stellt sich bereits jetzt die bange Frage wer ist der Blasphemie dichter auf den Fersen, die Zuckerbäcker oder der Untergrundfilmer? Auch in den folgenden 36 Episoden geht es reichlich blasphemisch, gotteslästernd und christenschändend zur Sache - das macht den Film so sympathisch. Trotzdem hat man selten das Gefühl, daß da Provokation zum Selbstzweck betrieben wird. Die Super8 Filmer haben die Bibel einfach so gelesen, wie man sie heute lesen muß: Als Unterhaltungslektüre, randvoll mit lustigen Geschichten, denen man mit locker geführter Kamera ungeahnte ästhetische Qualitäten und absurde Interpretationen abgewinnen kann. Die besseren der Episoden sind zudem Perlen der Super8 Filmerei und streckenweise nähert sich der Puzzlefilm dank theatralisch überzeichneter Gestik, pompös inszenierte Szenen, der Ästhetik alter Stummfilme.

Sehr kurzweilig verfilmt zum Beispiel 'Stiletto' die wundersame »Brotvermehrung«. Zum Hungerhit "Feed the World" fördert Jesus auf einer belebten Fußgängerzone verkokelte Brotscheiben in Massenproduktion aus einem Toaster und versucht sie vergeblich unters Volk zu bringen. Zum guten Schluß kriecht der Menschensohn über Pflaster und sammelt das schwarze Zeug wieder ein, Ordnung muß sein, auch bei wundersamen Toastvermehrungen!

Überhaupt scheint es den Filmern das größte Vergüngen bereitet zu haben, die Bibelepisoden auf die unterschiedlichste Weise aus dem Ruder laufen zu lassen: ein wieder sehender Blinder, der Jesus zum Dank den Blindenstab übers Messiashaupt brettert, zum Leben Erweckte, die nichts besseres zu tun haben, als sich direkt nach Erweckung gegenseitig abzuknallen und die von der göttlichen Steinigung errettete Ehebrecherin, die der Einfachheit halber gleich mit Jesus selbst im Hinterzimmer verschwindet. Gegen Ende wird der Film dann dichter und fast entspinnt sich eine richtige Handlung, bevor endlich die lang erwartete Kreuzigung blutrünstig und detailgenau von Jörg Buttgereit in Szene gesetzt wird.

Viele Menschen tun in diesem Film Dinge, die man eigentlich nicht tun soll: Man peitscht keine Bischöfe, legt armen Fischern keine 6packs ins Netz und beißt Jesus während des Kreuzweges nicht in den Hals. Denn eigentlich ist Jesus doch ein prima Kerl, gegen den sich fast so wenig sagen läßt wie gegen Professor Grzimek oder Petra Kelly. Hat Brynntrup also keine Angst, sich Strafpunkte in höherer Instanz einzuhandeln? Scheinbar nicht. Recht selbstzufrieden schlürft der blonde junge Mann den letzten Kaffee in sich hinein, und erzählt auf die Frage nach weiteren Plänen etwas von 'The Return of Jesus'.

In den nächsten Wochen aber wird er erstmal mit seiner Plastiktüte und den drei Filmrollen unterm Arm durch die Kommunalen Kinos der Republik tingeln. Missionstournee nennt er das und bis jetzt ging das ganz ohne großen Ärger ab. Nur ein Pastor in Bad Salzufflen sammelte Unterschriften gegen das Teufelswerk. "Nur 25" berichtet Brynntrup - und ist fast ein bischen enttäuscht.

Auch das Geschäft mit der Provokation ist eben schwieriger geworden und seit der Christ nicht mehr verklemmt und altersschwach in der Bibelstunde sitzt, sondern liebenswürdig zu Mensch und Tier seine freie Zeit bei Friedensdemonstrationen und Tierbefreiungen verbringt. Selbst für einen handfesten Krach mit dem Antichristen sind die belämmerten neuen Sanftmutschristen nicht mehr zu haben.

In diesem Zusamenhang stellt sich die dringende Frage nach der Gleichheit der Waffen. Brynntrups »Jesusfilm« werden in der ganzen Bundesrepublik über den Daumen gepeilt 5000 Leute sehen. Wer ihn nicht sehen will, geht einfach nicht ins Kino. Blasphemische Provokation gibt es für 5 Mark (Mitglieder) und 7 Mark (Nichtmitglieder).

Wie aber ergeht es dem Antichristen. Gerade hat der Vatikan festgelegt, daß der allösterliche Urbi et orbi-Segen auch von Kurzwellen übertragen werden kann, daß also auch der radio - Segen religionstheoretisch in Ordnung geht. Logisch weitergedacht bedeutet dies - geht man nichtsahnend auf der Straße spazieren und erwischt einen eine solche Kurzwelle, ist's passiert: gesegnet, ob Du willst oder nicht.

Es ist der religiöse Super-Gau, der uns nächstes Ostern droht, erinnern wir uns also der Verhaltensmaßregelen unserer grünen Freunde anläßlich der Russenhavarie. Ostern '87 gilt: Lassen sie ihre Kinder nicht ins unbeaufsichtigt Freie, kommt einer trotzdem mit einer gesegneten Kurzwelle in Berührung: ab unter die Dusche und ganz fest schrubben!

(Communale Heidelberg, 13.11.86 - Wolfgang Luck)

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Eraserhead: "Monument im Kleinformat - Ein sicherer Kandidat für den Cecil B. DeMille-Preis", berlinale-tip Nr.1/86, Berlin, Februar 1986

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Wiglaf Droste: "Jesus klebt!", die tageszeitung, Berlin, 15.02.86

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Bernd Kegel: "Der Toaster und das Abendmahl", Bielefelder Stadtblatt, 10.07.86

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Alexandra Jacobsen: "Das Neue Testament als Super8-Monumentalfilm"
Neue Westfälische Bielefeld, 11.07.86

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Bärbel Jäschke: "Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen"
RIAS 1 'KIRCHENFUNK', Radio-Sendung vom 11.07.86

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tom: "Mysteriöses Mysterium", Nürnberger Zeitung, 31.07.86

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Peter Keough: "»Jesus: Der Film« is silly, sublime", CHICAGO SUN-TIMES, May 22, 87

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Andreas Wildfang, "Jesus pre Digitales", ARTS in Buffalo, vol 1 N°24, 15.12.88

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Gero von Goell: "Jesus - der Film", Babsies Diktatur, Ausgabe 13, Januar 2004

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Silvia Hallensleben, "Missionieren im Super-8-Format", die tageszeitung, 04.09.2014

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Adolf Stock: "Jesus - der Film, Super-8-Film mit Kreuzigung als Splatter-Episode"
Deutschlandradio Kultur 'Religionen', Radio-Sendung vom 21.12.2014

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Laila Oudray, "Jesus – Der Film | Restauriert und digitalisiert", screen/read - webzine für Film & Kino, 30.12.2014

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Martin Ostermann, "Totgesagte leben länger", FILM-DIENST, Nr.9/2015, Mai 2015



JESUS-BIBLIO | JESUS BIBLIO
Bibliographie zu »Jesus - der Film« | bibliography on »Jesus - The Film«


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