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Pressestimmen | reviews and articles

Totgesagte leben länger
von Martin Ostermann


Die größte Geschichte aller Zeiten im kleinsten filmischen Format und in Schwarz-weiß, als ironische Antithese zu den monumentalen Bibelschinken: Das verwirrte bei der »Berlinale« 1986 so manchen Betrachter. Knapp drei Jahrzehnte später ist das »wichtigste Werk der filmischen Subversion« (Claus Löser) der Berliner Avantgarde-Szene – digital restauriert – bei den internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen (30.4.-5.5.) neu zu sehen.

Jesus ist als Zwilling auf die Welt gekommen. Aber das Leben seines Zwillingsbruders wird nicht weiter verfolgt bzw. verfilmt, sondern nur die (biblische) Geschichte von Jesus. Nach der wunder­samen Heilung des Blinden bedankt sich der nun Sehende nicht etwa bei Jesus, sondern raubt diesen aus. Die Ehebrecherin, die Jesus vor der Steinigung rettete, verführt ihn anschließend. Diese Liste ließe sich fortsetzen und gibt einen kleinen Einblick in die insgesamt 35 Episoden, die von unterschiedlichen Filmemachern mit je eigener Akzentsetzung auf Schwarz-weiß-Film gebannt wurden. Der 1986 uraufgeführte, vom deutschen Filmemacher Michael Brynntrup initiierte »Jesus – der Film. Monumental­film über den Lebens- und Leidensweg unseres Herrn Jesus Christus« erlebt in diesen Tagen seine Wiederaufführung bei den diesjährigen Kurzfilmtagen in Oberhausen. Zudem erschien jüngst Brynntrups Materialbuch »Jesus – der Film – das Buch«, welches Entstehung und Verlauf des Projektes beschreibt. Vorangegangen war eine Digitalisierung und Restaurierung des Super8-Materials mit Mitteln der Filmförderungsanstalt (FFA). »Jesus – der Film« wird künftig im Bestand der Deutschen Kinemathek verfügbar sein.

Die Idee zu diesem »Monumentalfilm in Super8-Format« stammt von Brynntrup, der die Konzeption seit 1984 entwickelte und schließlich mehrere Künstler und Künstlergruppen aus der Avantgarde- und Undergroundszene zur Zusammenarbeit einlud. Eine Kooperation mit hoher Eigenständigkeit und weitgehender Improvisationsfreiheit. Die Episoden, welche Szenen aus den Evangelien zum Inhalt haben, wurden getrennt und ohne näheres Wissen voneinander inszeniert. Lediglich die Schlussbilder der jeweiligen Vorepisode waren bekannt. Kontinuität gab Brynntrup dem Vorhaben auch dadurch, dass er in zahlreichen Episoden selbst Regie führte und durchgängig die Figur Jesus darstellt. Im Vorfeld der Dreharbeiten versandte Brynntrup zudem Rundbriefe – so genannte Jesusbriefe, in denen er die Spielregeln erläuterte. Im zweiten Brief schrieb er etwa: »Die Hauptsache ist die Erzählung oder Nacherzählung des Neuen Testaments mit vorrangig schauspielerischen Mitteln. Ich denke dabei weniger an experimentell-visuelle Effekte, sondern eben an Theater, aber eben auch nicht an ,Oberammergau‘. Ein solches Mammutprojekt – eine monumentale Bibelverfilmung auf Super8 – entbehrt gewiss nicht einer gewissen Komik, doch soll der ganze Film auch nicht zu einer flachen Klamotte entarten, – das Thema ist durchaus ernst gemeint. Schließlich bestimmt die christliche Mythologie – ob wir wollen oder nicht – unseren ganzen abendländischen Kulturkreis, zu dem wir – ob wir wollen oder nicht – ja alle gehören.«

Dieses Spannungsfeld aus Komik und ernsthafter Auseinander­setzung, biblischer Nacherzählung und kulturkritischer Darstellung ist dem Film durchweg anzumerken. Ohnehin bedarf es einiger Konzentration, um sich in die Machart aus Schwarz-weiß-Bildern, die ohne Originalton mit »Voice over«-Kommentar bzw. gesprochenem Text aus dem Off und eingeblendeten Texttafeln präsentiert werden, einzufinden. Die Musikauswahl folgt meist einschlägigen Monumentalfilm-Vorbildern und bildet in ihrem Bombast einen krassen Gegensatz zur kaum vorhandenen Ausstattung und den laienhaft auftretenden und kostümierten Schauspielern. Manche Verfremdung ist gewollt witzig, etwa die Darstellung der »wunderbaren Brotvermehrung« durch einen von Jesus bedienten, beständig Brot spuckenden Toaster auf offener Straße in Berlin; andere Szenen wie »Bergpredigt« oder »Jesus und die Fischer« wirken überambitioniert oder gar wie pubertärer Klamauk. Silvia Hallensleben schrieb: »Natürlich war das Filmprojekt auch ein toller Abenteuerspielplatz für Brynntrup, der als junger schwuler Filmemacher damals noch recht frisch in Westberlin war, wo sich Mitte der 1980er Jahre Hausbesetzer, Punk und Kunstavantgarde zu einem produktiven Amalgam mischten. So kam der Jesus-Film (,Alle Macht der Super8!‘) nicht profan in den regulären Filmverleih, sondern wurde im Rahmen sogenannter Missionstourneen mit Spektakel auf den Weg gebracht.«

Die Lust an der Provokation, das Spiel mit religiösen, kirchlichen und bürgerlichen Wertvorstellungen und der Spaß am filmisch ungebundenen Experiment ist »Jesus – der Film« ebenso anzumerken wie den thematisch verwandten Filmen »Das Gespenst« (1982) von Herbert Achternbusch oder »Das Leben des Brian« (1979) von Terry Jones, die allerdings professionell produziert und im Kino gezeigt wurden. Auf der Homepage von Brynntrup wird in der Beschreibung von »Jesus – der Film – das Buch« der Film »als zentrales Werk der Filmavantgarde und der Super8-Bewegung der Achtzigerjahre in Deutschland« bezeichnet. Sicherlich schwingt hier ebenso wie auch beim Film eine gute Portion Ironie mit. Mag es mancher als extravagantes intertextuelles Spiel interpretieren, wenn der beim Abendmahl Blut trinkende Jesus bei Kreuzigung und Auferstehung als Vampir erscheint, so ist für andere an dieser Stelle die Grenze zur Blasphemie überschritten.

»Jesus – der Film« ist als anarchisches Filmexperiment der 1980er-Jahre auch heute noch von einigem Interesse. Theologisch weitet Brynntrups Projekt in Zeiten weltweiter Religionskonflikte, des erstarkenden Fundamentalismus und des Streits um die religiöse Deutungshoheit angesichts von Satire und Humor einmal mehr den Blick für die notwendige Freiheit der Kunst in einer christlich geprägten Kultur, die sich selbst zu reflektieren gelernt hat. 

(FILM-DIENST, Nr.9/2015, Mai 2015 - Martin Ostermann)

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Bibliographie zu »Jesus - der Film« | bibliography on »Jesus - The Film«


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